Nachrufe und Erinnerungen: Wendelin Schmidt-Dengler, 1942-2008

Das Institut für Germanistik trauert um seinen langjährigen Institutsvorstand, Univ. Prof. Dr. Wendelin Schmidt-Dengler, der am Sonntagabend, den 7.9.2008, überraschend nach kurzer Krankheit in Wien verstorben ist.

Wir verlieren nicht nur einen großartigen Wissenschaftler, sondern auch einen Freund und einen Kollegen, der unser Institut und die österreichische Germanistik wesentlich geprägt hat.

Der stellvertretende Institutsvorstand,
Michael Rohrwasser,
für das gesamte Institut

Wir haben am Institut gemerkt, wie wenig wir als Einzelne derzeit imstande sind, einen Nachruf zu verfassen, der den vielen Seiten von Wendelin Schmidt-Dengler gerecht werden könnte. Statt dessen haben wir die Idee gefasst, Freunde, KollegInnen, SchülerInnen, die am Wiener Institut studiert oder gelehrt haben, einzuladen, Nachrufe und Erinnerungen zu schreiben, da es um die Summe der Blicke geht. Untenstehendes wird sukzessive erweitert.

Carina Chitta, Wien
Hermann Dorowin, Perugia
Bernhard Fetz, Wien
Franz Haas, Rom
Martin Hainz, Wien
Michael Hammerschmid, Wien
Martin Huber, Gmunden
Roland Innerhofer, Wien
Klaus Kastberger, Wien
Brigitte Lackner, Wien
Hubert Lengauer, Klagenfurt
Henner Löffler, Köln
Kai Luehrs-Kaiser, Berlin
Matthias Meyer, Wien
Karl Müller, Salzburg
Wolfgang Müller-Funk, Wien
Michael Rohrwasser, Wien
Karlheinz Rossbacher, Salzburg
Hermann Schlösser, Wien
Elisabeth Schwagerle, Paris
Egon Schwarz, St. Louis
Ernst Seibert, Wien
Monika Seidl, Wien
Imbi Sooman, Wien
Nicole Streitler, Wien
Daniela Strigl, Wien
Juliane Vogel, Konstanz
Karl Wagner, Zürich
Dietrich Weber (†), Rathenow
Werner Wintersteiner, Klagenfurt

Carina Chitta, Wien

„Ich warte auf die kleinen Schnitzerl, die gibt es jedes Jahr und sie sind immer besonders lecker.“ sagte er zu mir.
Er: Wendelin Schmidt-Dengler, ehemaliger Stipendiat der ÖAW in Rom
Ich: Carina Chitta, aktuelle Stipendiatin der ÖAW in Rom
„Und meinen Koffer haben sie auch wieder verschmissen, das passiert mir jedes Mal, wenn ich nach Rom komme, sehen Sie mich an, in meiner verdrückten Reisekleidung muß ich zum Empfang kommen.“
Es war der 26. Oktober 2006, Nationalfeiertag, und der Botschafter in Rom lud zu einem Empfang in die Österreichische Botschaft.
Ich sah genauer hin: Ein etwas untersetzter, mittelgroßer Mann, der in einer Hand ein Sektglas und in der anderen einen Teller mit österreichischen Köstlichkeiten balancierte. Er kenne mich, meinte er, während er das Buffet nach den Schnitzerln absuchte, kein Wunder, hatte ich doch seinerzeit mit grobem Unwissen über Heines frühe und späte Lyrik nicht unbedingt geglänzt und war mitsamt meinem ebenfalls völlig wissensfreien Kollegen unter lautem Gebrüll aus dem Zimmer geworfen worden. Das war Wendelin Schmidt-Dengler.
Wendelin Schmidt-Dengler war aber auch derjenige, der uns notenlos ziehen und unseren Fehler ausbessern ließ. „Na segns, warum net gleich“, entließ er uns, mit zwei „Sehr gut“ und viel Wissen über Heines frühe und späte Lyrik.
„Ich war ebenfall Stipendiat in Rom, das war eine wunderbare Zeit“, kramte er in Erinnerungen und „Ach, Sie sind Althistoriker, ja, da haben wir viel gemeinsam“, und im Bann der folgenden Erzählungen, blieben Schnitzel Schnitzel, den krampfhaft den Text der Bundeshymne memorierenden Mitbürgern erstarben die vielgeprüften Zeilen unter der Hand, und mit jedem Wort, jedem Satz, jeder Formulierung zog er die Besucher weg vom Buffet in seinen Bann. Es war Begeisterung, Überschwang, Charisma, die von dem Mann in Reisekleidung ausgingen, er, der sich in einen Mantel magnetisierender Worte gehüllt hatte.
Als er aufsah und bemerkte, daß alle Gespräche in Hörweite verstummt waren, Teller unberührt blieben und sogar die stur ausschließlich italienisch verstehen wollenden Einheimischen fasziniert lauschten, schob er verlegen ein Fleischbällchen vom Tellerrand in Richtung Erdäpfelsalat und murmelte, er werde sich jetzt nach den Schnitzerln umsehen. Er hinterließ eine Lücke, sein Mantel aus Worten wehte ihm nach. Später sang er mit uns die Bundeshymne, die der Botschafter am Klavier begleitete, hielt sich im Hintergrund, unauffällig, bescheiden. Die Schnitzerl hat er dann doch vergessen, man zog ihn in Gespräche, bat um seine Meinung, versuchte ihn reden zu machen um zuhören zu können, einfach nur zuhören. Die Lücke klafft immer noch, nur diesmal können wir ihn nicht vom Buffet holen, dafür speist er jetzt am Buffet des Herrn. Dort wird er bestimmt seine Schnitzerl bekommen, wie auch in Rom, ich brachte die letzten Stücke für ihn in Sicherheit, das hat er mir bestimmt niemals vergessen. Sah ich ihn in Wien, grüßte er mich, er (er)kannte mich. Ob Heine wohl Schnitzel mag?

Hermann Dorowin, Perugia

Anfang Oktober 1972, Wien – Hanuschgasse: im beengten, etwas chaotischen Bibliotheks- und Übungsraum des Germanistischen Instituts wartet eine Menge meist langhaariger, salopp bis wild gekleideter und rebellisch gesonnener junger Leute auf den Beginn des Proseminars zur Einführung in die Literaturwissenschaft. Flugblätter werden verteilt, ein kraushaariger Poet verliest seine Verse, die Atmosphäre ist lebhaft, prickelnd, ganz unakademisch. Da tritt der Dozent herein, der Universitäts-Assistent Wendelin Schmidt-Dengler. Wendelin, was für ein komischer Name, denken viele; gekleidet ist er ganz traditionell mit Sakko und Kravatte und beginnt seinen Vortrag in wohlgesetzten Worten, feingebauten Perioden, im charakteristischen Tonfall eines Wiener Bildungsbürgers, ganz so wie es sich für einen Dozenten gehört. Doch was er sagt, ist vom ersten Satz an verwirrend, verblüffend, urkomisch, ein Feuerwerk an Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung, das die Hörer sofort in seinen Bann zieht.  Dass man Wissenschaft so betreiben kann, war ihnen bis dato unbekannt. Alle Vorhaben einer Störung oder „Umfunktionierung“ der Lehrveranstaltung sind vergessen; Schmidt-Dengler hat ihnen den Wind aus den Segeln genommen, hat damit begonnen nachzuweisen, dass Literatur – die alte wie die neue – packend und amüsant sein kann, ein Medium der Selbstverständigung, des Experiments, der Welterfassung und -veränderung wie kein zweites. Philologisch genau bis zur Akribie, dabei immer mit einem Blick auf gesellschaftliche Prozesse und Zustände, werden Texte der Tradition und der Avantgarde gelesen und kommentiert. Neugier, Interesse, Begeisterung für das geschriebene Wort übertragen sich auf die Hörerinnen und Hörer, werden für viele von ihnen zur entscheidenden Prägung für ihr weiteres Leben…
Dass sich unter jenen Langhaarigen auch der Verfasser dieses kleinen Nachrufs befand, dürfte schon klar geworden sein; weniger stürmerisch bewegt, durchaus gelassen, saß Ulrich Weinzierl daneben; der dichtende Krauskopf aber hieß Robert Menasse. Andere damals Anwesende desselben Jahrgangs werden verzeihen, wenn ich sie nicht erwähne. Was wir im Oktober 1972 in jener Einführungsübung erfahren haben, hat sich seither unzählige Male wiederholt: die Initiation einer Liebe zur Literatur und zu ihrem kritischen Studium, die oft genug zu einem Lebensinhalt geworden ist. Schmidt-Denglers einzigartige Beliebtheit bei den Studierenden war nie einer Form von Anbiederung oder Demagogie zu verdanken – er trug weder Parka noch Turnschuhe, sprach weder Slang noch Jargon –, sondern der ausstrahlenden Kraft seiner Persönlichkeit, der mitreißenden Energie seines Enthusiasmus, der Unbestechlichkeit seiner mit Witz und Ironie gewappneten Intelligenz. Dass viele von uns ihm über Jahrzehnte die Treue gehalten haben, ist freilich nicht nur durch die intellektuelle Faszination, sondern auch durch seine herzliche Menschlichkeit, seine unermüdliche, großzügige Hilfsbereitschaft zu erklären, die er noch auf die Schüler seiner Schüler übertragen hat. Wenn man bedenkt, wieviel Zeit Wendelin Schmidt-Dengler der Förderung jüngerer Kollegen und Kolleginnen gewidmet und wie intensiv er die Lehre betrieben hat, dann kommt man angesichts seiner enormen wissenschaftlichen und kritischen Produktion aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hierzu noch einige, ganz unvollständige Anmerkungen:
An Wendelin-Schmidt-Denglers wissenschaftlicher Tätigkeit ließe sich exemplarisch vorführen, wieviel ein einziger Mensch zu bewegen, zu verändern, zu beleben, anzuregen vermag. Man stelle sich nur einen Augenblick vor, er hätte sich nie mit Literatur, zumal mit der österreichischen, beschäftigt: wie würde es heute um unsere Kenntnis von Doderer und Herzmanovsky-Orlando, Bernhard, Mayröcker, Jandl, Artmann und Marianne Fritz stehen? Diese Frage ist genauso schwer zu beantworten wie etwa die, mit welchen Kategorien wir ohne seinen Beitrag heute Nestroy, Raimund und Kurz-Bernardon lesen oder wie wir das kulturelle Panorama der Ersten Republik beschreiben würden. Damit soll natürlich nicht die absurde Behauptung aufgestellt werden, dass all diese Kenntnisse Schmidt-Dengler allein zu verdanken seien – derlei Größenwahn war diesem Skeptiker und Ironiker vollkommen fremd – wohl aber, dass zahllose Studien in diesen (und anderen) Bereichen von ihm – seiner Lehre, seinen Publikationen, seinem lebhaften Zuspruch und seinem nicht minder lebhaften Widerspruch – entscheidende Impulse erhalten haben. Einer dieser vielen Impulse besteht sicher darin, die Diskussion über die Existenz und Besonderheit einer österreichischen Literatur auf ein ganz anderes wissenschaftliches Niveau gebracht zu haben. Gemeint ist hier der Nachweis, dass es keiner ideologischen Hirngespinste oder nostalgisch-patriotischen Geschichtsmythen bedarf, um die österreichische Literaturgeschichte als solche in ihrer Kontinuität (und ihren „Bruchlinien“) zu erfassen und zu rekonstrurieren. In seinen animierten Stellungnahmen, gerade auch gegenüber bundesdeutschen Literarhistorikern, hat er darauf insistiert, dass Autoren und Autorinnen von Nestroy bis Kraus, von Musil bis Jelinek, nur im Bezugsrahmen der österreichischen Sozial- und Kulturgeschichte adäquat erfasst werden können. Mehr als jede Podiumsdiskussion hat zur Verbreitung dieser Erkenntnis freilich sein kritisches Meisterwerk Bruchlinien (1995) beigetragen. Aus dem Wechselspiel von präziser Textanalyse und verbindenden Einleitungen entsteht hier nicht nur eine unübertreffliche Geschichte der österreichischen Gegenwartsliteratur, sondern ganz nebenbei auch noch ein allgemein brauchbares Modell literarhistorischen Schreibens, das auf den pompösen Gestus des allwissenden „Erzählens“ verzichtet. Dass gerade dieses Buch aus einer Sammlung von Vorlesungen entstanden ist, macht deutlich, wie sehr Forschung und Lehre bei diesem Germanisten miteinander verwoben waren und welches Privileg all jene hatten, die als Studierende der Entstehung seiner wissenschaftlichen Beiträge gewissermaßen live beiwohnen durften. Es sei hier die Hoffnung ausgesprochen, dass weitere seiner Vorlesungen (über Komödie, Volkstheater, Mythenrezeption etc.) in Buchform erscheinen und so ein breiteres Publikum erreichen mögen.
In bewegenden Beiträgen haben andere Kollegen vom unersetzbaren Verlust gesprochen, den die österreichische Germanistik erlitten hat. Ich möchte nur hinzufügen, dass wir „Italiener“ diese Trauer mit Euch teilen und dass auch uns Wendelin Schmidt-Dengler schrecklich fehlen wird, war er doch durch unzählige Formen der Zusammenarbeit mit uns eng verbunden. Auch in Italien belebte er Kongresse, Symposien und Seminare mit seiner zugleich faszinierenden und liebenswerten Persönlichkeit, die uns allen unvergesslich bleiben wird.

Bernhard Fetz, Wien

Ich habe vor allem anderen seine Stimme im Gedächtnis, sie macht für mich seine unglaubliche Präsenz aus. Dass sie auf einmal nicht mehr da sein soll, ist schwer zu begreifen. Er war ein begnadeter Sprecher, aber kein Redner, keiner, der auch nur im Entferntesten seine Sprecherrolle je missbraucht hat. Er hat für andere und für anderes gesprochen, für die Texte, für die Autorinnen und Autoren, für seine Schülerinnen und Schüler, für eine andere Universität. Er war Fürsprecher, dabei stets bereit, seine Sprecherrolle anderen zu überlassen. In jenen Vorlesungen etwa, die ich zu Beginn meines Studiums besucht habe. Da überließ er die letzte Viertelstunde, eine wahre Rapid-Viertelstunde, uns, dem Publikum, zur freien Diskussion. Genützt haben diese Gelegenheit zu meiner Zeit vor allem die Kolleginnen und Kollegen von der Gruppe revolutionärer Marxisten. Die wussten zu Goethes „Wahlverwandtschaften“ viel Kritisches zu sagen, bevor einige von ihnen dann Jahre später in der New Economy oder bei den Neuen Medien wieder auftauchten. Ich bin sicher, sie haben, wie wir anderen auch, bei ihm Lesen und Schreiben gelernt. Er war zutiefst davon überzeugt, dass eine philologische Haltung, verbunden mit einem kritischen Blick auf das Umfeld der Texte, eine Basis ist, auf der sich vieles aufbauen lässt; und dass wir ohne diese erweiterten Lese- und Schreibfähigkeiten ärmer wären. Mir hat diese Überzeugung in Momenten des Zweifels an der Sinnhaftigkeit germanistischen Tuns weitergeholfen. Ich habe sie auch zu meiner Überzeugung gemacht.
Wer die Pointen so zu setzen wusste, wer so viel an Ironie und Selbstironie ins Spiel bringen konnte, wer über so viel Wortwitz und eine so stupende Geistesgegenwärtigkeit verfügte, der lief manchmal Gefahr, von seinem Publikum vor allem der Pointen wegen geliebt zu werden. Dabei hatte sein Sprechen nie etwas Auftrumpfendes, es verfügte über fast gebrochen zu nennende Stimmlagen, sein Sprachwitz war auch existenziell. In einem Jubiläumsaufsatz zum zehnjährigen Bestehen des Österreichischen Literaturarchivs hat er geschrieben, dass wir unsere kreative Fantasie in den Dienst einer Archäologie der Zukunft stellen sollten. Aus solcher Perspektive sehen wir in der Gegenwart nur Trümmer herumliegen, Zerstörtes. Diese Sicht hat ihn immun gemacht gegen das falsche Fortschrittspathos. Er, der in der Welt Erfolgreiche, ist in die Schule der Weltliteratur gegangen, er hat diese Schule nie verraten. Sein Arbeitsethos war grundiert von einem tief sitzenden Skeptizismus. Das verbindet ihn mit seinen Lebens-Autoren, mit Thomas Bernhard, mit Johann Nestroy, mit Ernst Jandl. Das Litaneihafte in der österreichischen Literatur, das Katholisch-Anarchische daran, er hat es nicht zuletzt bei Ernst Jandl gefunden; wie er ein Sprecher, dessen Stimme mit seiner ganzen übrigen Existenz untrennbar verbunden war, und dessen Pointen abgrundtief sein konnten. „Das Gebet in die Sprache nehmen“, heißt einer von Wendelin Schmidt-Denglers Aufsätzen und Vorträgen, in der Umkehrung klingt das wie auf ihn gemünzt: Er hat die Sprache ins Gebet genommen, täglich, gewappnet mit Witz, Demut und Angriffslust.
Er war Fürsprecher, und er hat viele von uns früh dazu animiert, flügge zu werden. Mit einer unvergleichlichen Mischung aus Äquidistanz und Nähe hat er, was auf seinem Schreibtisch sich ansammelte, und was er vehement von den verschiedensten Stellen einforderte, an seine Schülerinnen und Schüler weitergegeben. Er kannte deren Stärken und Schwächen, er wusste ziemlich genau, wer sich an welchem Platz wahrscheinlich bewähren würde. Diese Weitsicht hat vielen von uns weiter geholfen und uns das für den Betrieb, den akademischen und den Literaturbetrieb im Allgemeinen, notwendige symbolische Kapital ansammeln lassen. Er hat vielen von uns Möglichkeiten eröffnet, und wir haben uns seiner hoffentlich im Großen und Ganzen auch würdig erwiesen.
Diese Haltung bedeutete eine permanente Verausgabung. Ich hatte oft ein schlechtes Gewissen, ihn wieder einmal um Unterstützung für irgendein Vorhaben zu bitten; er aber erwartete das sogar, er sah das nicht als lästige Pflicht, sondern als Verpflichtung: gegenüber den Leuten, die er schätzte, gegenüber der Germanistik und dem literarischen Leben, gegenüber seinem Professoren-Stand, und ganz einfach gegenüber seinem ausgeprägten sozialen Gewissen. Nie hat er vergessen, dass auch wenig Geld für junge und nicht mehr so junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und für Autorinnen und Autoren viel sein konnte. Er hat keine und keinen je vergessen, sein Erinnerungsvermögen war phänomenal; aber er war sich dessen bewusst, dass sogar seine Ressourcen beschränkt waren. Das alles hat ihn belebt, und es hat ihn auch erschöpft.
Es fällt mir sehr schwer zu akzeptieren, dass er nicht mehr sprechen wird.

Franz Haas, Rom

Dank von einem Findelkind

Er verstand es immer, seine einschüchternde Belesenheit derart in Witz zu kleiden, dass man sich neben ihm nie wirklich eingeschüchtert fühlte, nicht einmal als Studienanfänger im Sommersemester 1975, als er uns in der ersten Stunde seines Proseminars sagte, wer nicht gerne lese, „wem das Lesen eine richtige Qual ist, der sollte das Germanistikstudium lieber bleiben lassen“. Damals wusste ich noch nicht, dass hinter seinem Sarkasmus eine Liebenswürdigkeit stand, eine rührende und rührige Hilfsbereitschaft, die allen zugute kam, die das Glück hatten, in seiner Nähe zu sein: die Kollegen, Studenten und vor allem seine Dissertanten, die damals im Jargon „Schmidt-Dengler-Kinder“ hießen.
Eigentlich war ich in diesem Kreis gar nicht legitim, war nur ein Findelkind, weil ich die wichtigsten Seminare bei Albert Berger gemacht hatte, der aber nach Klagenfurt berufen wurde, gerade als ich meine Dissertation beginnen sollte und deshalb auf der Suche nach einem neuen Doktorvater war. Ich fand ihn im Schankraum des Gasthofs Blauensteiner in der Josefstädterstraße. Er saß mit einer Gruppe am Doderer-Stammtisch, kannte mich nur flüchtig, grüßte mich trotzdem mit einem Zeichen über ein paar Tische hinweg, fragte mich ein paar Minuten später mit konzentrierter Anteilnahme nach meinem Studium, hörte sich meine Sorgen an und forderte mich auf, in seine nächste Sprechstunde zu kommen. Danach hat er nie mehr aufgehört, sich um mich zu kümmern, mir mit Rat und mit seinem Einfluss zu helfen, auch als ich nach der Promotion nach Italien gegangen bin, sich zu freuen, wenn mir etwas gelang, zu trösten, wenn etwas misslang. Und von solcher Herzlichkeit war er zu allen, besonders zu seiner akademischen Familie, auch zu den Findelkindern.
Zuletzt gesehen habe ich ihn im Herbst 2007 in Rom, als er hier zusammen mit Claudio Magris und Umberto Eco einen Kulturpreis bekam, wo wir im Trubel der Festveranstaltung nur ein paar Minuten miteinander sprechen konnten. Einige Tage später schrieb er mir eine witzige E-Mail über seine Begegnungen bei Tisch mit Umberto Eco, über die sehr legeren Tafelmanieren des intellektuellen Weltstars („So sind große Männer aus der Nähe.“) Wendelin Schmidt-Dengler war ein großer Mann von anderer Art, der sich nicht durch saloppe Umgangsformen hervortat, der höfliches Auftreten, eine bürgerliche Kleidung und gute Manieren wahrte, so selbstverständlich wie andere Geistesgrößen sich in Extravaganz und Arroganz hüllen.
Seine Nähe war immer bezaubernd und persönlich, auch wenn es, wie bei fast allen seinen ehemaligen Schülern, beim korrekten „Sie“ blieb, beim „Herr Doktor“, das später ein anerkennendes „lieber Professor“ wurde, selten ein schäkerndes „caro professore“. Er brauchte keine gönnerhafte Kumpanei, um sich beliebt zu machen, er zeigte seine Großzügigkeit auf sinnvollere Weise, denn schon allein seine aufmerksame Anwesenheit war ein Geschenk für den, der sie zu schätzen wusste.
Wie alle seine Schützlinge verdanke auch ich ihm sehr viel – nicht nur die konkrete Unterstützung, nicht nur die kurzweiligen Stunden bei Stadtwanderungen in Rom und Neapel, bei langen Autofahrten durch Italien und durch Kalifornien. Vor allem danke ich ihm für das, was ich bei ihm gelernt habe, den Blick auf Literatur und das Urteil darüber. Ob das wirklich viel ist, weiß ich nicht, jedenfalls ist es fast schon mehr als man von jemandem lernen darf, wenn man unabhängig bleiben will. Auch wenn wir uns in der Literaturkritik nicht immer einig waren, werde ich nicht aufhören, mich von ihm beeinflussen zu lassen, mich bei jeder neuen Lektüre zu fragen, wie er über dieses oder jenes Buch geurteilt und argumentiert hätte – er, Wendelin Schmidt-Dengler, der beste Lehrer, dem so viel daran lag, seinen Schülern auch zur Unabhängigkeit zu verhelfen.

Martin Hainz, Wien

Um(-)Wege

Ich lernte, und wahrscheinlich kann man sagen: man lernte bei meinem Doktorvater, meinem Ordinarius, meinem Freund Wendelin Schmidt-Dengler vieles, in nuce aber: Umwege – und was es mit ihnen auf sich habe. Auch ihn selbst lernte man auf diesen Umwegen kennen: Respekt und Distanz prägten unsere Zusammenarbeit und auch Freundschaft, und darum, weil da keine erlogene Nähe war, entwickelte sich eine wahre Nähe.
Seine Distanznahme war immer schon dieses Angebot; ich entsinne mich der Klage einer Studentenvertreterin, er gebrauche „gar so oft Fremdwörter“, worauf er ihr beschied: „Frau Kollegin, ich verwende Fremdwörter nur, wo es kein Adäquat gibt.“ Das war nicht Ressentiment, dazu wurde es höchstens dem, der sich nicht auf diese Provokation einlassen wollte. Auch sein heiliger Zorn – er sagte mir einmal, er habe schon als Kind bei der Beichte seinen Jähzorn thematisiert… – war eigentlich kein Zorn, sondern Notwehr gegen jene Sprachlosigkeit, jene Denkfaulheit der Automatismen.
Dagegen setzte er die Sprache; wir haben einen Menschen, der es vermochte, Sprache zu sein, verloren. Er war offen, ohne sich zu verlieren oder zu vereinnahmen. Das machte ihn auch zum genuinen Leser – aber mir vor allem auch zu einem Freund: Bei ihm war Begegnung kein Jargon.
Freundschaft und Menschlichkeit war Jargon-Freiheit, sei es der Jargon der (auch universitären) Technokraten, sei es jene einer pseudo-poetischen Verblasenheit. Achtung ist eben, um das Wort aufzugreifen, das er gebrauchte, ein Gefühl fürs Adäquate und das immer auch Nicht-Adäquate.
Unter seinem so liebevollen wie genauen Blick erwachten Buchstaben und Texte, erwachte eigentlich alles zu Leben. Gegen das Falsch-Systematische stellte er noch Kommata, zeigte, daß Philologie erst Denken ermögliche, zeigte, wie Lettern – Bruchlinien gleich – allenthalben auf das weisen, was vergessen ward. Gegen das schlechthinnige Denken stellte er, es aufgreifend, eben dessen Sprache; als Motto meiner Habilitation, die er betreute, möchte ich zwei Zitate – eines von G.W.F. Hegel, eines von Paul Celan – anführen; vielleicht, ich hoffe es, hätte er sie in der Zusammenstellung gemocht:

„(D)er Weg des Geistes ist […] der Umweg”
… „aber gibt es das denn: Umwege?”

Es war ein schöner Weg, den ich mit Schmidt-Dengler in den letzten fünfzehn Jahren gehen durfte; manchmal in Mäandern, nie als Umweg. Wir alle verdanken ihm Inspiration und Begeisterung. Nun ist er verstummt; dieses Schweigen ist auch eines der Texte, denen es ohne ihn die Stimme verschlagen haben muß. Wenn sie wieder ihre Stimme – – –  Wendelin Schmidt-Dengler wird in den Texten, die ihm etwas bedeuteten, weiterleben … und in den Texten der vielen, die ihn schätzten und, ja, liebten.

Michael Hammerschmid, Wien

Bruchlinien ungebrochen

der wahre vogel

fang eine liebe amsel ein
nimm eine schere zart und fein
schneid ab der amsel beide bein
amsel darf immer fliegend sein
steigt höher auf und höher
bis ich sie nicht mehr sehe
und fast vor lust vergehe
das müsst ein wahrer vogel sein
dem niemals fiel das landen ein
(Ernst Jandl, aus: selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr)

Am Montag hatte ich davon erfahren. Professor Wendelin Schmidt-Dengler ist tot. Die Homepage der Germanistik, an der er lehrte, war an diesem Montag noch leer. Dienstags kam ein Mail mit der Nachricht über den Universitätsverteiler des Instituts, mittwochs, nachdem alle Zeitungen ihre Nachrufe gebracht hatten, fanden sich quasi wie von selbst die ersten Stimmen auf der Institutshomepage ein. Nachrufe, Erinnerungstexte aus dem In- und Ausland, die sich dort wie eine virtuelle Gemeinschaft sammelten und noch immer sammeln, um Abschied zu nehmen. Als wäre es zuvor keinem Einzelnen zumutbar gewesen, auf diesen Tod anders als durch Schweigen zu reagieren. Und es ist tatsächlich eine große Erleichterung, jetzt einer von vielen sein zu können und zeigt auch etwas vom Verhältnis dieses einen, der so viel für so viele bedeutet hat. Die Nachrufe werden die Leere nicht füllen, die nun entstanden ist, aber sie scheinen sie doch etwas erträglicher zu machen. Und dennoch ist es zuallererst diese Leere, die nicht wegzureden ist und nie mehr wegzureden sein wird: Beklemmend prägte sie sich mir als ein Bild ein, als ich am Donnerstag mit Freunden vor Prof. Schmidt-Denglers Arbeitzimmer eine Blume legte. Wie leer war da dieses sonst so aufgeladene kleine Fleckchen Gang am Institut für Germanistik! Wie blind die Blindenschrift über seinem Namen neben seinem Zimmer. Wie leer die Pinnwand und die untätigen Plastiknadeln, die nun in ein Nichts stachen. Kein Alte-Schmiede-Programm, kein Literaturhausprogramm mehr daran. Keine Ankündigung der nächsten Sprechstunde, die Schmidt-Dengler seit Beginn meines Studiums, Anfang der 90er Jahre, stets auch im Sommer hielt. Nichts mehr war zu spüren vom Angstschweiß und nichts mehr von der Erwartung, die gerade und wie doch immer eben erst mit den Studenten und Studentinnen vor dem Zimmer gesessen war. Und nichts war mehr da vom Dämon seiner Produktionskraft, die sonst wenige Meter hinter der Tür wirkte, wärmte, ermöglichte, gestaltete. Ein Kraftwerk. Und tue mir schmerzhaft schwer, keinen der er-war-Sätze zu schreiben, der die Trauerreden füllt.
Manchmal verbinden sich Orte und Menschen zu etwas. Für mich war diese Station von Anbeginn meines Studiums ein Fixpunkt am Institut: Während des Studiums als ein unheimlicher und gefürchteter Ort, vor dem weinenden Studentinnen und einem zuweilen grimmigen Professor zu begegnen war. In Zeiten meiner Diplom- und Doktorarbeit als einem Ort der Verpflichtung und des Versprechens. Im Grunde war es niemand als Professor Schmidt-Dengler, dem ich in den vielen Jahren mein stets an der Grenze des Akademischen sich bewegendes Schreibens immer gerne anvertraute. Weil ich durch ihn eine Freiheit gewährleistet wusste, die auf seiner Intuition gründete und die mir stets als ehrliches, unmittelbares Wort, das aus rascher Expertise entsprang, entgegenkam. Wahrscheinlich hätte ich nicht studiert, hätte ich an Stelle dieser intuitiven Sicherheit den weitverbreiteten akademischen Vorgabe-Kopie-Übungen mich andienen müssen. Und auch in Zeiten meiner von Prof. Schmidt-Dengler geleiteten Projektarbeit mit Helmut Neundlinger wurde dieses Vertrauen nie enttäuscht.
Der Blick von der Bibliothek schräg hinauf über den eingezogenen Zwischenstock bis zu diesem Zimmer Schmidt-Denglers, werde ich ihn mir je abgewöhnen können?
Dabei war Schmidt-Dengler so unabhängig von seinem Lehrstuhl wie kaum ein anderer. Ich glaube, er hat ihn gerade deshalb so verkörpert, weil er ihn samt all der Würden und Ehren, so wenig nötig hatte. Er bot ihm wohl schlicht die Möglichkeit zur Gestaltung und gesellschaftlichen Partizipation, um die es ihm zu tun war. An Schmidt-Dengler konnte man – seltenes Beispiel – die vielen kleinen und größeren Siege eines Individuums gegen die Starrheit der Institution mitverfolgen. Dabei stand ihm vielleicht nichts so sehr im Wege wie das Zusammenkommen seiner Leidenschaft mit jener Macht, die ihm die Institution zuschrieb. Vielleicht lag in ihr aber gerade das Motiv jener drängenden Treibkraft, die ihn so oft so müde aussehen und umso produktiver bleiben ließ? Er schien dieses Zusammenfallen wegarbeiten zu müssen. Und er wählte dazu den Weg der Weitergabe. Einmal entschuldigte er sich dafür, dass er ja nichts dafür könne, bei so vielen Gelegenheiten auf seine eigenen Studentinnen und Studenten zu treffen, die nun einmal „nicht gerade auf der Nudelsuppe dahergeschwommen“ kamen. Es war offensichtlich die Lust, wachsen und entstehen und sich verknüpfen zu sehen, die zu dieser Vernetzung führte, in der er sich nicht gar als Zentrum, sondern viel eher als Beteiligter sah. Professor Schmidt-Dengler, der Vertreter der österreichischen Germanistik par excellence, verstand es so ganz untypisch für dieses Land eben völlig neidlos zu verteilen und sich schlicht am Rückfluss an Erkenntnis und Lebendigkeit zu freuen, wie es etwa auch noch in seine letzte im Standard erschienene Kolumne über das Lesen erzählt. Als Literaturvermittler hat sich Wendelin Schmidt-Dengler einen Namen gemacht, der nicht nur an der Oberfläche der Gesellschaft, sondern vor allem in den Tiefenschichten fluktuierte. Erst in den letzten Wochen und Jahren hat ihm seine Literaturvermittlung äußerst renommierte Preise eingebracht, die meisten wissen es: er wurde nach der Ernennung zum Wissenschaftler des Jahres 2007 auch mit dem Preis der Kritik bedacht. Dass sein Name aber zu einer so fixen Währung im intellektuellen, nein weiter: im kulturellen Milieu nicht nur Wiens und Österreichs wurde, hat seinen Grund wahrscheinlich wesentlich in dieser Haltung, das heißt in seiner Art der Lehre und in der jeweiligen Auseinandersetzung mit den Menschen und deren Arbeiten, mit denen er in Berührung war. Dieser war geprägt durch ein hohes Maß an intellektueller Prägnanz, durch Humor und Menschenwärme, die sowohl um das Werden wie um die Vergänglichkeit wusste. Vielleicht ist es nicht zuletzt dieses gelebte Bewusstsein Schmidt-Denglers um diese beiden Seiten der Produktion und des Lebens, das auch seinem Werk, seinem Schaffen eine – naturgemäß – andere Gestalt gab als dies bei manch anderem Wissenschaftler der Fall ist. Es ist gewissermaßen von einer weicheren Stofflichkeit, ohne deshalb weniger streng und schlüssig zu sein. Der Stoff seiner geisteswissenschaftlichen Arbeit ist nicht allein am Buchstaben aufgehängt. Der Buchstabe, die Schrift ist viel mehr Teil seines Projektes Lehre, (Re)präsentation und Forschung. Bei Schmidt-Dengler war diese Trias vervielfältigt und reichte etwa was erstere Sparte betrifft, weit in die Literaturkritik hinein, was zweiteres betrifft bis in seine Senatstätigkeit und in die zahlreichen Auftritte in den unterschiedlichsten Medien und was letztere angeht bis in die Arbeit am nach- oder vorgelassenen Manuskript im Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, dessen Leiter er war. Wenn also im Zusammenhang von Schmidt-Dengler von Werk die Rede sein wird, muss dieses im Kontext dieser Teile und ihrer gegenseitigen Befruchtung und ambivalenten Spannungsmomente beleuchtet werden und nicht allein auf Grundlage seiner Texte. So sehr diese Zusammenfassungen, Forschungen, Konzentrationen seiner intellektuellen Tätigkeit darstellen. Die er in unermüdlicher, stets frischer und auf Auseinandersetzung gründender Weise vorantrieb. Und die, um es mit einem Wort Schmidt-Denglers zu sagen, ja tatsächlich „Legion“ sind. Auch die Gedanken und Beobachtungen darin, die Zeugnis von Schmidt-Denglers Leseintensität und -kapazität ablegen und einem glücklichen und ebenso seltenen Zusammentreffen von extensiver und intensiver Lektüre entspringen. Schmidt-Dengler konnte Antike und Avantgarde miteinander kurzschließen, konnte die Qualität des kleinen Textes in Zusammenhang mit den sogenannten großen Werken der Literaturgeschichte bringen und gleichzeitig ihre Koexistenz gelten lassen. So wurde Schmidt-Dengler zu einer Integrationsfigur, die wie angedeutet, einerseits verteilte und weitergab, um gleichzeitig zusammenzuhalten und zu verbinden. Das Integrieren spiegelte sich aber nicht nur im stets neugierigen, offenen Blick auf Texte unterschiedlicher Zeiten und Provenienz, sondern auch in seinen Vorlesungen und seinen DissertantInnen-Seminaren, die stets von vielen Studenten und Studentinnen aus dem Ausland besucht wurden, denen er wohl in vielen Fällen auch dabei geholfen hat, hier einen Studienplatz zu bekommen (die ungleichen Studiengebühren für Inländer und Gaststudenten sprechen in diesem Zusammenhang ja für sich, was hier an der Universität gewünscht und gefördert wird). Wie konnte der manchmal so erschöpfte Professor das alles schreiben, bewältigen, verarbeiten? Wie konnte er, eingenickt im Seminar, den Kopf ins auf der Brust gestützte Kinn so plötzlich aufwachen und als hätte er nicht geschlafen einen seiner Monologe halten, zum Thema, zum Kontext passend, doch wie ein wenig versetzt? Es war als gäbe es in ihm eine Art stream of consciousness, der fortwährend im Fluss war und dem er sich anschließen konnte, wann immer es nötig war. Und den er unentwegt speiste, indem er las, und schrieb, und den er verarbeitete, weiterspann, indem er schrieb und sprach und las. Manchmal konnte ihn diese Sprechen fremd, nicht ganz bei sich und nicht ganz bei einem, aber eben doch immer bei der Sache, bei seiner und der der Literatur, erscheinen lassen. Dann wiederum konnte er mit diesem verflechtenden, verstrickenden, bestrickenden Sprechen beeindrucken und wiederum integrieren: etwa dann, wenn er seine Gedankenrede in geformter Art und Weise vor großem Publikum präsentierte. Das stets gesteckt volle Auditorium Maximum der Wiener Hauptuniversität wurde zum vielleicht markantesten Zeichen einer Kontinuität, die Schmidt-Dengler durch diese Gedankenrede herstellte. Und die sich durch zweierlei von anderen unterschied und unterscheiden wollte: Sie argumentierte und verwirklichte einen Bruch innerhalb des österreichischen Bewusstseins, indem es sich gegen die nationalsozialistische Kontinuitäten des Denkens und Schreibens stellte: kämpferisch und entschieden. Thomas Bernhards Werk, das Schmidt-Dengler von Beginn an begleitete, kommentierte, vermittelte und kontextualisierte mag als einer der wesentlichen Bezugsautoren für diese Auseinandersetzung stehen.
Gleichzeitig waren es die Brüche selbst, in den Biographien, Schreibweisen, man könnte im übertragenen Sinn auch: das Unbequeme und Schwer-Zugängliche dazu sagen, das ihn beschäftige und das den Fokus seiner Forschungstätigkeit auf einen ersten Begriff bringen lässt. Seine unter dem Titel „Bruchlinien“ zusammengefassten Vorlesungen sagen es noch genauer: Denn an den Brüchen entstehen auch Linien, oft messerscharfe und schmerzhafte, die der Germanist, der Wissenschaftler im Sinne Schmidt-Denglers, hervorarbeiten muss. Um etwas sichtbar zu machen, um auf die Dialektik von Bruch und Linie hinzuweisen und schließlich auch, um mit diesen Bruchlinien zu zeichnen und sei es im Sinn einer Montage, eines work in progress, als welcher sich dieses Buch, ja vielleicht das gesamte Schaffen Schmidt-Denglers besser begreifen lässt.
In gewissem Sinn ist es gut zu wissen, dass es keine Fortsetzung dieser Arbeit und Schrift geben wird, sondern dass sie allein einem dem Geist und der Haltung Schmidt-Denglers verpflichteten Kollektiv, das sich auf keinen Nenner bringen lässt, überantwortet ist. Dass jeder, jede dort wird weiter anknüpfen und zusammenfassen, so viel er und sie kann, was von Schmidt-Dengler für viele Generationen geöffnet und miteinander in Assoziation gebracht wurde. Weshalb seine Arbeit so weit in die Zukunft weist, liegt wohl vor allem auch daran, dass Schmidt-Dengler sich der Literatur der Gegenwart als einer seiner dringlichsten Aufgaben stellte. Wahrscheinlich liegt darin eines seiner herausragendsten Verdienste als Germanist und insbesondere für die Wiener Germanistik, die ganze Zunft, das ganze Fach auf seine Zeitgenossenschaft hingewiesen zu haben. Im Jetzt und Heute stellen sich die ästhetischen Fragen der Literatur wie ihre durch diese zur Darstellung kommenden Inhalte als etwas dar, das sich nicht erledigen, abtun und schubladisieren lässt. Erst aus dieser Perspektive heraus werden auch zurückliegende Debatten als dereinst ebenso in die Zeitläufte vergangener Zeitgenossenschaften verstrickte, als lebendige begreifbar. Durch die Teilnahme an den aktuellen Debatten, durch den vielfältigen Austausch mit lebenden Autorinnen und Autoren – sei in seiner Funktion als Festredner, Juror oder Diskussionsteilnehmer oder Veranstalter, sei es in seiner sorgfältigen Betreuung der Nachlässe und nicht zuletzt Vorlässe österreichischer Autorinnen und Autoren für das Literaturarchiv – war diesem doppelten Darstellungsansatz aus einem Heute und über eine Vergangenheit heraus die nötige Glaubwürdigkeit gegeben, die seine Arbeit so lebendig, beweglich und triftig machte. Germanistik seit Schmidt-Dengler heißt Zeitgenossenschaft, wache Beobachtung der entstehenden, sich mit uns formenden, verändernden Literatur und Gesellschaft und Rückblick auf ein Erbe bis in die Antike.
Freilich lag darin auch die Gefahr, die Konzentration auf eine Epoche, auf ein Werk zu verlieren: der Vorwurf, wo denn Schmidt-Denglers große bleibende Studie seit seiner Habilitationsschrift geblieben sei, lag in der Luft. Ein Vorwurf, der nach Schmidt-Denglers frühem Tod doppelt in ebendieser Luft hängen bleibt, wie er gleichzeitig die österreichischen Bedingungen für die Arbeit eines Wissenschaftlers und Intellektuellen mitbedenken müsste, wozu hier nicht der Raum ist. Wie ist die Linie zwischen Generalist und Spezialist im Falle Schmidt-Denglers aber zu ziehen? Viel Spezialistentum ist sicherlich in seinem Schaffen angelegt, ohne zu einer großen Synthese zu gerinnen. Ich glaube, das Fehlen einer solchen Synthese in Form eines Buches, öffnet erst den Blick auf die Eigenart seines Tuns: Für mich liegt überspitzt formuliert, das Werk Schmidt-Denglers in der Wendung der Rede. Als gäbe es ein Werk, das sich notwendigerweise wenden, vervielfältigen, übersetzen muss, um individuell wirken zu können. Entwaffnend und direkt. Es erschließt sich daher nur dem offenen Ohr und dem genauen Blick; und es zeigt sich etwa besonders an der Schwelle der gesprochenen Schrift – man denke an die Vorlesungen Schmidt-Denglers – und der freien Rede oder dem Gespräch – wie man es etwa in der in memoriam Schmidt-Dengler ausgestrahlten Wiederholungssendung der Radio-Sendung „Im Gespräch“ wieder hören konnte. In diesem Milieu, an dieser Kreuzstellung liegt die spezifische Wort- und Gedankenarbeit, an der sich am besten sein „organon“, sein Werkzeug fassen, nachvollziehen und vielleicht einmal untersuchen lässt. Es ist in diesem sich „fortwährend“ (Kleist) herausbildenden Prozess, in dem Schmidt-Dengler seinen Witz im buchstäblichen Sinn als erkenntnisgenerierendes Instrumentarium entwickelte. Ein heiteres Instrumentarium, das an die heitere Demut des von H.C. Artmann in den 50er Jahren proklamierten poetischen Aktes in wissenschaftlicher Abwandlung denken lässt. Schmidt-Denglers Affinität zu Ernst Jandl, Johann Nestroy und Thomas Bernhard, den Autoren, denen er eigene Studien in Buchform gewidmet hat, lassen die Bedeutung und existenzielle Dimension seiner Art der witzigen Wort- und Gedankenbildung genauer ans Licht kommen. Und auch hier wieder lassen sich die Bruchlinien als genuiner Ansatz seiner „rhetorike techné“ sehen, die auf der einen Seite die Poetik als eine Praxis freier Darstellungskunst und auf der anderen eine Methode im Sinne einer strengen Wissenschaftsdisziplin berührt. Schmidt-Denglers Witz kann als Kern einer Rede- und Schreibkunst beschrieben werden, die in der Tradition sowohl des Essays als auch der antiken Rhetorik steht; allerdings einer Rhetorik von unten, die sicher auch zur Popularität Schmidt-Denglers beigetragen hat. Das oben zitierte Wort von der Nudelsuppe mag dafür ein Beispiel im Sinne eines pars pro toto seiner bildlichen Ausdrucksweise sein. Doch ist der Witz andererseits auch schon nur die Spitze einer Darstellungspraxis, der es leidenschaftlich um eben diese Anschaulichkeit und ihre Vielschichtigkeit zu tun war. Kein Bild, keine Metapher Schmidt-Denglers, die nicht von der Lust und der körperlichen Dimension des Wortes erzählte. Darin war Schmidt-Dengler ein Dolmetscher, im Dienste der Wissenschaft und seines Faches, der Philologie. Das Wort sollte Fleisch werden. Doch das Fleisch durfte nicht verkauft, sondern musste auf der Stelle verwertet werden. So in etwa der Vorgang, auch der Fluch vielleicht, der Schmidt-Dengler zuweilen sehnsüchtig und voll Hochschätzung auf die Theoretiker und Philosophen blicken ließ. Denen er aber auch die Arbeit am Wort entgegensetzen konnte, als der zuweilen schmerzhaften Immanenz germanistischer Praxis. Am Wort waren die Entscheidungen zu treffen, am Wort die Waffen zu strecken oder um neue Instrumente zu ringen, die es zu fassen bekommen könnten. Diese Bemühung um das plastische Wort machte Schmidt-Dengler zum richtigen Philologen. Sie bildete auch die Grundlage für seine Fähigkeit, in den unterschiedlichsten Genres tätig und wiedererkennbar zu sein: sei es in dem der Kritik, im wissenschaftlichen Beitrag, im Essay, in der Rede, im Vorwort usw. Die Methode dieser seiner Wortarbeit könnte man im weiteren Sinn als eine phänomenologische beschreiben, also als eine beschreibende, behutsame, die um die Leerstellen und die jeweils andere Seite des Ausdrucks weiß. Wodurch eben die oben angesprochene Plastizität entstehen konnte. Ein Ausdruck ist nie bloß einfach oder schwierig, er ist immer Zeugnis einer zumindest zweiseitigen Existenz.
Für mich waren und sind im breiten Spektrum von Schmidt-Denglers Beobachtungen zur Literatur immer jene dem Gegenstand so offen zugewandten und stets ihre Ganzheit mitbedenkenden Stellen oft so überraschend überzeugend gewesen. Hier lag die große Sicherheit seiner Germanistik, die man vielleicht im allerbesten Wortsinn als eine Germanistik des Aufsatzes bezeichnen könnte. Im Aufsatz, dem durch die Schulaufgaben und Schularbeiten völlig zu Unrecht desavouierten und zuweilen lächerlich geredeten Genre der freien Meinungsäußerung forschender, suchender und sich ausbildender Bürgerinnen und Bürger, ist der Schreiber, die Schreiberin ihren Gegenstand wohl so unmittelbar ausgesetzt wie in kaum einem Genre sonst. Schmidt-Dengler, freilich mit allen Wassern der Rede und des Schreibhandwerks gewaschen, hat ihn gewissermaßen wieder zu einer Würde verholfen, die ihm zusteht. Und damit dem kritischen, wenig geschützten, einer Sache, einer Frage zugeneigten Gedanken, der sich in kurzer Zeit erproben muss. Auch in Schmidt-Denglers Reden war der Humanismus des Aufsatzes stets spürbar: die Fähigkeit, einen mittleren Ton aus Darstellung und Ausblick, aus Wissen und Metapher, aus Subjektivität und Repräsentation zu treffen, der stets ernsthaft, heiter und lehrreich und von einer echten Leidenschaft für die Literatur getragen war.
Professor Schmidt-Dengler verkörperte in diesem Reden, dessen Humor gleichsam die Waage hielt, den vir bonus, den Ehrenmann der römischen Antike und damit den mündigen Bürger nicht nur der Stadt Wien, sondern den Bürger schlechthin, vorbildhaft.
Professor Schmidt-Denglers Tod reißt ein Loch in diese Stadt. Er macht die Germanistik zu einem Schiff, dem die Orientierung und der Sturm fehlen. Die Literatur hat einen Widerstand verloren, der sie einsam erscheinen lässt. Studentinnen und Studenten haben einen Fürsprecher verloren. Menschen aus allen Bereichen, in allen Altern und von verschiedenster Herkunft einen Freund.
Möge die Trauer uns mit uns selbst und anderen verbinden, um uns kritischer, kämpferischer, leidenschaftlicher und ehrlicher zu machen, im Sinne dieses großen Erbes, das wir nun mit aller Bescheidenheit und viel zu früh antreten dürfen.

Martin Huber, Gmunden

»Möglichkeitsfetzen von Erinnerung«
Wendelin Schmidt-Dengler zum Gedenken

Welche herausgreifen von wie vielen Begegnungen in mehr als 25 Jahren? Was hinzufügen zu so viel richtigem, schon Gesagtem und Ungesagtem?
Nur zwei Bruchstücke vom Anfang und vom Ende: Meine ersten Erinnerungen sind – wie wohl bei vielen – geknüpft an seine Vorlesung im Audimax zu Beginn meines Studiums. Er las über österreichische Literatur von 1970–80; nach einem Gymnasial-Deutschunterricht, der bei Thomas Mann endete, war es in dieser Vorlesung und aus seinem Mund, dass ich den Namen Thomas Bernhard das erste Mal hörte. Den furiosen Eröffnungssatz des Keller vom Gang in die »entgegengesetzte Richtung« habe ich mit seiner Stimme im Ohr, noch bevor ich selbst einen Satz Thomas Bernhards gelesen hatte. In seinen autobiografischen Erzählungen war Jahre vor der sogenannten »Waldheim-Affäre« oder dem Aufstieg Haiders (oder erst recht Straches) angesprochen, was bis heute an Aktualität leider nichts eingebüßt hat – die fatalen Kontinuitäten der nach 1945 nur hastig übertünchten nationalsozialistischen Jahre …
Letzte Begegnungen, letzte Zusammenarbeit dann diesen Sommer: Fünf Jahre nach dem Start der Werkausgabe mit seinem Debüt- und Durchbruchsroman Frost bereiteten wir Bernhards letzten fertiggestellten Roman Alte Meister vor, der – ein Jahr nach dem Tod von Hedwig Stavianicek geschrieben – unverkennbar Züge eines Lebensrückblicks trägt und zugleich eine Hommage an den Lebensmenschen des Autors darstellt. Nach letzten Recherchen im Verlag in Frankfurt fuhr ich mit meiner Frau (die bei ihm über Marianne Fritz dissertierte) zu Schmidt-Dengler nach Mortantsch, um letzte Details des Nachworts zu besprechen. (Nirgendwo konnte man so ungestört mit ihm arbeiten, aber natürlich auch gemeinsame Wanderungen unternehmen oder zu einer der Badegumpen in die Raab-Klamm absteigen und eine Partie Schach spielen …) Wir entzifferten gemeinsam eines von nur zwei Entwurfsblättern zum Roman und entdeckten dabei das Namenspaar »Werner/Keldorfer« – Lesern des Keller bekannt als die beiden Lehrer Bernhards in Musikästhetik bzw. Gesang. Theodor W. Werner, so kann man daraus schließen (und das war uns und der Bernhard-Forschung neu), war also eine Art Vorbildfigur für den Protagonisten des Romans, den Musikkritiker Reger.
Danach noch ein Treffen in Gmunden anlässlich 10 Jahre Thomas Bernhard Privatstiftung und 20 Jahre Uraufführung von Heldenplatz. Nachdem wir uns am Abend im Haus in Nathal nebeneinander sitzend noch einmal den damaligen Beifall- und Protest-Orkan angehört hatten,  noch ein kleines, spätes Abendessen auf Einladung von Bernhards Bruder Peter Fabjan beim Bader in Laakirchen; danach bringe ich ihn zu seinem Hotel in Gmunden, eine – scheinbar – beiläufige Verabschiedung, wie so oft …
Zuletzt noch zwei Telefonate, er liefert seinen Teil des Nachworts; wir vereinbaren, dass diesmal er die Fahnen Korrektur liest, da ich länger verreise. Raimund Fellinger ermahnt mich halb scherzhaft, dass ich aufpassen möge, er hätte keine Lust, einen Band in memoriam zu machen – nun ist es unbegreiflicherweise ein Band in memoriam Wendelin Schmidt-Dengler geworden …
Wenn es ihm schlecht gehe, hat er mehrmals gesagt, lese er Thomas Bernhard, das baue ihn auf. Und tatsächlich findet sich auch in Bernhards letztem Roman eine paradox trostlos / trostvolle Passage, die schon Siegfried Unseld bei dessen erster Lektüre ins Auge gesprungen ist und die ich nun und in Zukunft leider in Erinnerung an Wendelin Schmidt-Dengler lesen werde: Immer, so Reger, habe er geglaubt, die Musik, die Philosophie, die Literatur seien es, die ihm alles bedeuteten, nach dem Tod des »geliebten Menschen« fände er aber in all seinen Büchern und Schriften »keine Lösung und […] kein[en] Trost«.

Roland Innerhofer, Wien

Wie kann jemand, dessen Anwesenheit in jedem Augenblick so spürbar war und ist, plötzlich nicht mehr da sein?
Wendelin Schmidt-Denglers Vorlesung „Österreichische Literatur nach 1945“ hat mich am Beginn meines Studiums begeistert. Seither war er für mich Lehrer und später auch Freund, beides im emphatischen Sinn. Seine Leidenschaft für die Literatur war ansteckend, seine Geistesgegenwart war bewundernswert und unnachahmlich. Unzählige Studierende hat er durch seine Vorlesungen und Seminare für die Germanistik eingenommen. Seine Stimme wirkte im engen Kreis wie in der Öffentlichkeit gleichermaßen markant. Blitzschnell stellte er überraschende und präzise Verbindungen her und konnte dabei mühelos auf ein stupendes Wissen von der Antike bis zur Avantgarde zurückgreifen.
Wendelin Schmidt-Dengler ist niemals den Versuchungen machtgestützter Eitelkeit erlegen. Er ist sich selbst, seinen Freunden und der Literatur treu geblieben. Er hat sich nicht nur um die toten, sondern auch um die lebenden Autoren nach Kräften gekümmert. Die Vitalität, Energie und Güte, die er ausstrahlte, waren und sind beglückend. Leben wie lesen – wie kein anderer hat Wendelin Schmidt-Dengler diese Utopie verkörpert. Jetzt ist er verschwunden. In seinen Schriften und in unseren Erinnerungen lebt er weiter.

Klaus Kastberger, Wien

Er war auch ein mächtiger Mann, schreibt Franz Schuh in seinem Nachruf in der „Zeit“, und das stimmt auch, ganz ohne Zweifel, nur haben wir, die in seinem unmittelbaren Umfeld gearbeitet haben, seine machtvolle Stellung gar nicht so recht wahrgenommen. Denn etwas an Schmidt-Denglers Person milderte seine Macht: Seine Menschlichkeit, seine Freundlichkeit, sein Humor; auch die Tatsache, dass er selbstironisch sein konnte und neben sich andere nicht nur gewähren ließ, sondern sie nach Kräften förderte. Schmidt-Dengler hatte ein Herz für die Menschen, und deshalb hatte er ein Herz für die Literatur, und deshalb hatte er ein Herz für seine Schüler. Wie stolz er war, wenn sie etwas erreicht hatten: eine erste Rezension in einer Zeitung, eine erste Einladung zu einem Symposium, ein gelungener Vortrag, ein bewilligtes Forschungsprojekt, ein Lob aus Autorenkreisen. In all dem, was ihn umgab (und es umgab ihn viel), hat er die Fortschritte, die wir machten, auch wenn es sich dabei oft nur um Kleinigkeiten gehandelt hat, genau registriert. Er war ein Aufmunterer ohne Ende und kam dabei ganz ohne die blöden Spielchen aus, auf die sich manch ein anderer in seiner Position allein schon aus Standesdünkel verpflichtet gesehen hätte. Standesdünkel war Schmidt-Dengler fremd, und so vermochte man das obligate „Herr Professor“, mit dem man ihn grüßte und mit ihm verkehrte, frei hinzusprechen, denn nicht der Titel schmückte hier den Mann, sondern der Mann den Titel. Umgekehrt sprach ja auch er uns immer mit unseren manchmal frisch erworbenen akademischen Titeln an, aber auch darin strahlte etwas von seiner Liebenswürdigkeit auf uns zurück.
Freilich gab es von seiner Seite auch Lenkungen, aber diese Lenkungen waren (eigentlich seit ich mich an ihn erinnern kann und auch später in seiner Funktion als Vorgesetzter am Österreichischen Literaturarchiv) von einer ausgeprägt sanften Art. Hinter dieser Form des Umgangs, bei der man sich manchmal fragte, wie eigentlich sie so gut funktionieren konnte, verbarg sich größtes Vertrauen: in unsere Fähigkeiten, unsere Initiative und letztlich wohl auch in unsere Durchsetzungskraft. Was, so frage ich mich, könnte man von einem Lehrer Besseres sagen, als dass er seine Schüler zu eigenständigen Menschen gemacht hat? Bei Schmidt-Dengler genügt schon ein kleiner Blick auf die unterschiedlichen Charaktere derer, die neben und mit ihm und meinetwegen auch unter ihm groß geworden sind: Hier wurde kein Stromlinienmodell gezeugt, sondern Individualität und eigenständiges Denken gefördert.
Es gibt sehr viele Gründe, warum man Schmidt-Dengler gemocht hat, und es gibt sehr viele Gründe, warum man jetzt um ihn trauert. Sie alle aufzuzählen, wird einige Zeit beanspruchen. Für mich selbst bestand eines der zentralen Erlebnisse, die mich ihm näher gebracht haben, darin, ihn bei einem repräsentativen Anlass zu erleben – ich weiß jetzt gar nicht mehr, welcher das genau war. Schmidt-Dengler, den ich in der ersten Reihe vermutet hätte, saß plötzlich neben uns. Und er ist dort sitzen geblieben, viele Jahre lang. In den mittleren und hinteren Reihen, also bei uns, konnte er, der Herr Professor, der eine Kompetenz und einen Rang hatte wie kein anderer, manchmal geradezu rotzbubenhaft frech sein. Eine Haltung, die er, wenn es sein musste, auch in die Öffentlichkeit trug. Mir selbst hat das immer den größten Mut gemacht.

Brigitte Lackner, Wien

Wendelin Schmidt-Dengler ist eine Inspiration. Von ihm in der Vergangenheit zu sprechen, verwehrt seine Lebendigkeit, welcher durch den jähen Tod – oder vielleicht gerade deswegen – kein Abbruch getan wird.
Er ist einer jener wenigen Menschen, die mit ihrer ganzen, großzügig einbindenden Lebensart, mit ihrer Präsenz andere berühren und jenes unbestimmte Streben auslösen, besser sein zu wollen. Man begegnet einem solch erlesenen Geist mit Hochachtung und Liebe, – dass er uns so rasch abhanden gekommen ist, stimmt deshalb besonders traurig.
In ihm wohnte ein universeller Genius. Er war einer jener Sonderlinge, die – mit einer Vielfalt hervorragender Qualitäten begabt – so manchen in Erstaunen versetzen konnten. Geistesgegenwart, Witz, Gewandtheit, Beobachtungsschärfe und sprachliche Eleganz vereinten sich in ihm mit Milde, Sensibilität und einer authentischen Autorität, die sein Gegenüber immer einlud und nie ausfocht. Ihn selbst hielten diese mannigfachen Talente wohl dazu an, durch ein viel zu knapp bemessenes Menschenleben zu eilen, ohne sich genug Verschnaufpausen zu gönnen.
Professor Schmidt-Dengler erhob seine Wissenschaft zur Kunst, seine Lebenskunst wiederum spiegelte sich in der bewegten Verbindung all seiner Rollen, die er so vorzüglich einzunehmen wusste, unvergleichlich verwoben im Alltag einer ungeheuren Gedanken- und Realienwelt.
Dankbar bin ich ihm für seine Stimme über Literatur, seine Denkweise und Güte, seine fachliche und persönliche Unterstützung, gerührt bin ich von seiner edlen Gesinnung und seinem Vertrauen in die Fähigkeiten jedes Einzelnen – dadurch gab er entscheidende Impulse für das Leben vieler Menschen.
Als Deutschlektorin für die Österreich-Kooperation in Toruń (Polen) erstmalig vor die Aufgabe gestellt, Proseminare in Österreichischer Kulturgeschichte zu halten war ich froh, auf eine Fülle Schmidt-Denglerschen Materials zurückgreifen zu können. Meine Vermittlung österreichischer Literatur im Ausland trug seine Handschrift und ich hatte ein gutes Gefühl dabei. Er machte es einem leicht, seinen scharfen Blick für die Texte der SchriftstellerInnen und deren erfahrene Einbettung in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu teilen.
Wendelin Schmidt-Dengler ist von bleibender Wesenheit, – in meiner persönlichen Erinnerung, in meinem Denken, Tun und Forschen wird er mir immer ein kostbarer Weggefährte sein.

Hubert Lengauer, Klagenfurt

Meine liebste Erinnerung an Wendelin Schmidt-Dengler ist diese: Zu meinem Abschied aus dem Wiener Institut habe ich eine Gruppe von Germanistinnen und Germanisten, aber auch die Familie Schmidt-Dengler, zu einer Bergwanderung verführt. Es ging über einen Steig in die „Ringe“ des Hochschwab. Die Damen, darunter auch Konstanze Fliedl, waren weiter unten geblieben, Schmidt-Dengler, sein Sohn Philipp, Karl Wagner und ich waren etwas weiter hinaufgestiegen und saßen auf den Steinen. Gemsen waren, glaube ich, auch da. Wir waren alle ganz Alpenkönig, kein Menschenfeind.
Schmidt-Dengler sagte: „Das ist ein schönes Stück Erde.“
Es war eigentlich, wo immer man saß, ein schönes Stück Erde, wenn man bei Schmidt-Dengler saß und ihm zuhörte.

Henner Löffler, Köln

Wendelin Schmidt-Dengler war mein Doktorvater. Ein großartiger, weiser, anregender, hilfsbereiter dazu. Immer liebenswürdig, sogar, wenn er grantelte.
Ein Wissenschaftler, den ich bewunderte, der Breite des Ansatzes wie der Tiefe der Analyse wegen. Ein Mensch, den ich verehrte, auch weil er so bescheiden und geduldig war, immer hinter die Sache zurücktrat.
Ein witziger und geistreicher Gesprächspartner jederzeit. Nach meiner Inskription, bei der er mir tatkräftig geholfen hat – aus Deutschland und dem Fach Politikwissenschaft kommend war es nicht so einfach – schrieb er mir im März 2000 eine E-Mail, die wie folgt begann.
„Der eine Wunsch meines Lebens ist erfüllt: Sie sind inskribiert! Der zweite: die österreichische Regierung möge abtreten. Nachdem das erste zweifelsohne das schwierigere Anliegen war, müsste das zweite gelingen! Ich freue mich, dass Sie bei mir arbeiten wollen.“
Wie kann man einen solchen Menschen nicht lieben? In über zehn Jahren, in denen wir uns auf Doderer-Tagungen und sonst wo trafen, ist meine Verehrung für ihn nur gestiegen, sein Tod ist ein schrecklicher, bleibender Schock.

Kai Luehrs-Kaiser, Berlin

Schmidt-Dengler besaß die Fähigkeit, gut zu tun. Seine Vorträge hatten einen eigentümlich therapeutischen Aspekt: Man hing an jedem Wort und zog gekräftigt von dannen. Auch deswegen wohl – wie die weit über tausend Menschen zeigten, die ihm bei seiner Trauerfeier das letzte Geleit gaben – war er ein so außerordentlich und zu Recht geliebter Germanist. Überraschen konnte diese Wirkung dennoch, denn eigentlich behielt er eine leichte Unnahbarkeit stets für sich. Auch habe ich niemals einen weniger sentimentalen Wissenschaftler getroffen, der sich keine Illusionen machte und hart urteilen konnte. Unter dieser Oberfläche war er – für alle offensichtlich: die Liebenswürdigkeit in Person. Beinahe möchte man denken, er hätte es zum Rang einer Wiener Sehenswürdigkeit gebracht. Ähnlich wie Voltaire hätte auch er seinen Besuchern ausrichten lassen können: „Die Besichtigung kostet sechs Pfund.“ Und ganz ebenso hätte der Besucher allen Grund zu der Antwort gehabt: „Ich gebe ihnen zwölf und komme morgen noch einmal wieder.“

Matthias Meyer, Wien

Spät, viel zu spät bin ich Wendelin Schmidt-Dengler das erste Mal persönlich begegnet. Es war im Doderer-Jahr 1996, der 100. Geburtstag und 30. Todestag des Autors, das Anlass zu vielen Tagungen gab. Eine kleine Gruppe Berliner Literaturwissenschaftler hatte es sich in den Kopf gesetzt, Doderer und die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm in einer Parallelaktion auch in Berlin zu fördern. Die erste Tagung der Doderer-Gesellschaft, der Wendelin Schmidt-Dengler freundlich-fördernd beitrat, und deren Ehrenvorsitzender er wurde, war ein großer Erfolg – und der Vortrag Schmidt-Denglers der Magnet, der zusätzlich Publikum anzog. Für mich war es eine Begegnung mit einer Doderer-Legende, der ich nicht ohne Angst entgegen sah, hatte ich es doch als Altgermanist gewagt, einen Vortrag über Genealogie in Doderers ‚Merowingern’ zu halten. Damals wusste ich nicht, dass Schmidt-Dengler als Quereinsteiger in die Deutsche Philologie solchen Versuchen sehr offen gegenüber stand.
Auf Doderer-Tagungen habe ich ihn immer wieder getroffen – und genossen, als Redner (der Doderer immer ähnlicher wurde), als Diskutanten, der, nicht immer ohne Schärfe, aber doch nie einseitig, seinen Autor gegen interpretatorische und politische An- und Übergriffe zu verteidigen wusste, und als unerschöpflichen Wissensfundus. Dass er einen gleichen verehrenden, fördernden und gleichzeitig kritischen, oft genug ganz konkret helfenden Umgang mit anderen Autoren pflegte, habe ich erst im Laufe der Jahre erfahren. Die letzte Doderer-Tagung im Mai dieses Jahres fand auf Anregung von Wendelin Schmidt-Dengler in seiner Heimatstadt Zagreb statt – und es war zu merken, wie sehr er diese Stadt immer noch liebte.
Schließlich, viel zu kurz, sind wir im engeren Sinne Kollegen geworden. Als Institutsvorstand und als Senatsmitglied hat er der Wiener Altgermanistik in ihrer schwierigen Lage geholfen. Und jenseits der wissenschaftlichen, politischen und kritischen Verarmung, die das Institut nun trifft, denn er war der Beste und Wichtigste von uns, vermisse ich schon jetzt die Zufallsbegegnungen mit Wendelin Schmidt-Dengler, auf dem Gang, im Fahrstuhl, oder auch in der Bim, die sich manchmal zu einem Mittagessen ausweiteten. Man wusste nie, welche Wendung ein solches Gespräch nehmen würde: Es konnte eine Schriftstelleranekdote sein, weil er gerade einen neuen Vorlass erwarb oder zu einem Gespräch über ein literarisches Manuskript vielleicht eher genötigt als gebeten wurde; immer wieder ging es um Doderer, der ihn nie losließ und den er nie losgelassen hat; es konnte eine Geschichte über Jagdbräuche aus der Steiermark werden, da er das Wochenende dort zugebracht hatte; es konnte eine Diskussion über fehlerhafte Übersetzungen griechischer oder lateinischer Texte werden; eine Straßenbahnfahrt reichte aus, damit er einen Vortrag skizzierte, den er am Abend zu schreiben beginnen wollte. Und wenn Zeit und Laune günstig waren, haben wir länger über Operette geredet (und uns leider nur einmal eine zusammen angesehen).
Wendelin Schmidt-Dengler hat viel erreicht; die Auszeichnungen, die er in den letzten Jahren erhalten hat, hat er alle verdient. Doch das wirklich bewundernswerte ist, wie menschlich und von Grund auf gütig er geblieben ist. Ich habe ihn zumindest so wahrgenommen: Schmidt-Dengler konnte poltern, er konnte blitzen, er konnte sich über einen gelungenen Coup diebisch freuen, und seine Mimik beim Abfassen einer bösen E-Mail war ein Genuss ganz eigener Art – doch machte er das mit Ehrlichkeit, aus Überzeugung und auf einen Fundament von Güte und Menschlichkeit. Das erzeugte eine Nähe, die anderen fehlt.
In den Prüfungen, die ich mit ihm zusammen machte, schloss er seinen Teil meist ab mit: „Ich betrachte mich als informiert, Herr Kollege, machen Sie weiter.“ Ja, wir machen weiter, aber ich hätte noch so viele Fragen, so viele Anregungen hätte ich noch brauchen können, und so informiert, wie ich durch ihn wurde, werde ich nicht mehr informiert werden.

Karl Müller, Salzburg

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

mit Bestürzung und großer Betroffenheit haben wir vom plötzlichen Tod unseres Kollegen und Ihres Vorstandes, Prof. Wendelin Schmidt-Dengler, erfahren. Im Namen des gesamten Instituts für Germanistik der Universität Salzburg möchten wir Ihnen unsere aufrichtige und tief empfundene Anteilnahme ausdrücken.
Prof. Schmidt-Dengler war mit unserem Institut und mit vielen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seit langer Zeit sehr eng verbunden, mit einigen von uns auch befreundet. Er war uns allen ein Vorbild in vielfacher Hinsicht – als unvergleichlicher Wissenschaftler und Hochschullehrer, als Mann des Geistes, des präzisen und aufklärerischen Denkens und der praktizierten Humanität, als Mann des universalen und zugleich tiefen Wissens, als brillanter Rhetoriker, als Mann des Humors und der erhellenden Ironie, einfach als eine mitreißende Persönlichkeit.
Prof. Schmidt-Dengler hat seit Jahrzehnten sehr viel für unser Salzburger Institut getan und gearbeitet: er lehrte hier als Gastprofessor – unauslöschlich in unserem Gedächtnis – er stand uns als Mitglied in sehr wichtigen universitären Kommissionen zur Verfügung, in Habilitations- und Berufungskommissionen, er war Gutachter und überdies Berater in allen wissenschaftlichen Angelegenheiten. Seine Stimme hatte Gewicht, sein Rat war für uns wichtig, vielen von uns half er uneigennützig.
Ihr Institut verliert mit Prof. Schmidt-Dengler wohl die führende und prägende Persönlichkeit der österreichischen Germanistik. Wir verbeugen uns vor diesem großen Wissenschaftler, Germanisten und Menschen –

im Namen des Fachbereichs Germanistik der Universität Salzburg
Ihr Karl Müller

Wolfgang Müller-Funk, Wien

Groß und klein.
Wendelin Schmidt-Dengler: Erinnerungen und Assoziationen.

Das Bemerkenswerte an meinen Rückblenden ist, dass sich im Falle Schmidt-Denglers  kein prägnantes Erinnerungsdatum bei mir einstellen will, keine Reminiszenz an eine spektakuläre Erstbegebenheit. Dieser Anfang ist buchstäblich  unter den alltäglichen Begegnungen begraben, den Gesprächen in seinem Zimmer oder in kleinen Uni-nahen Beisln, den Institutssitzungen und den Projektbesprechungen seit Mitte der 1990er Jahre, als ich von außen, akademisch von München und Klagenfurt kommend, zum Institut stieß. Zuvor waren Namen und Person für mich in die Aura des Prominenten gehüllt. Es war, glaub’ ich, ein Symposion in Wien Ende der 1980er Jahre, bei dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind.
Wenn ich in den letzten Tagen von der Uni aus meine Wege gegangen bin, zum Ring, zum Jonas-Reindl oder zur Reichsratstraße, dann höre ich seine unverwechselbare und unüberhörbare Stimme. Sie war – und das ist eben keine Selbstverständlichkeit, sondern hat mit einer gut österreichischen Tradition zu tun – zum Sprechen geboren, von Untertönen und einer sehr verschmitzten Ironie grundiert und begleitet. Einmal erklärte er mir, dass er sich immer gefragt habe, was denn an der Ironie  der deutschen Romantiker wirklich ironisch sei. Die Lust am parlando machte seine Stärke beim Vortragen aus, etwa, wenn er im Rahmen der Ringvorlesung des Initiativkollegs Kulturen der Differenz ohne Aufzeichnungen (die er irgendwo liegen gelassen hatte) eine Stunde über Dimitré Dinev sprach oder sich konzentriert mit Gerhardt Roth über dessen Œuvre unterhielt oder aber im Burgtheater mit einer unverwechselbaren Mischung aus Begeisterung und Bedacht über Christoph Ransmayrs Fliegenden Berg ausholte. Sichtliches Vergnügen bereitete es ihm auch, die Ironiefähigkeit Anderer zu testen, etwa wenn er bei einem opulenten Abendessen, das uns die slowenischen Kolleginnen und Kollegen anlässlich eines gemeinsamen Kongresses bereiteten, übermütig erklärte, der Müller-Funk esse ihm alles weg.
Wendelin Schmidt-Dengler war – auch das ist keine triviale Aussage – ein Mensch aus gut- und großbürgerlichem Hause. Großbürger sind heutzutage, in einer Welt der kleinen Leute en masse, verhaltensauffällig. Ein Großbürger unterscheidet sich vom Kleinbürger nicht zuletzt durch sein Verhältnis zum Ressentiment. Der kleine Mann bedarf der großen Vorurteile, um wenigstens für einen kurzen Augenblick das Glück des eigenen Übermaßes zu genießen, der Großbürger kann es sich leisten, nicht herablassend zu agieren. Das Ressentiment ist nicht sein Lebenselixier. So war Schmidt-Dengler, seinem ganzen Duktus nach kein Anhänger großer Abstraktionen und theoretischer Gedankenspiele, blieb aber für die theoretischen Aspirationen seiner SchülerInnen offen. Noch in einem seiner letzten Texte, einem Essay über das Lesen (im Standard) hat er es nicht verabsäumt, sich die Frage zu stellen, ob die Leistung prononcierter neuerer Theorien nicht darin bestünde, die Aufmerksamkeit für die Literatur wach zu halten. Von vielen traditionellen Philologen unterschied ihn ein Respekt vor dieser, der nicht mit Weihrauch-Schwenken gleichzusetzen ist. Er gehörte zu jener ganz raren Sorte von Literaturkritikern, die von der poetischen Spezies, wahren Idiosynkratikern, geliebt wird. Das ist unwahrscheinlich und unglaublich selten.
Ein Großbürger ist aber auch ein solcher, weil er eine große Familie hat, für die er sich – ein Pflichtmensch – verantwortlich fühlt. Diese Großbürgerlichkeit aus einer versunkenen Welt ist mir bei meinem akademischen Gastaufenthalt in seiner Geburtsstadt Zagreb im Jahre 2007 bewusst geworden, von wo aus ich ihm telephonisch zu seinem 65. Geburtstag gratuliert habe. Ich vermute, es waren die historischen Stadtkulissen und die Linienführungen der Umgebung, die diese Assoziationen ausgelöst haben. Ich weiß nicht allzu viel über seine Familie außer ein paar Anekdoten und Anmerkungen, aber wage die These, dass es gewisse soziokulturelle Ähnlichkeiten, Spiegelungen und Wahlverwandtschaften, mit der Dodererschen Familienroman-Welt gibt, die er in- und auswendig kannte. Symptomatisch fand er übrigens die Renaissance des Familienromans nach 1989, in Österreich wie in den Nachbarländern.
Wissen Sie, sagte er mir einmal offenherzig, leicht verlegen, ich bin ein Patriarch, der sich für seine Leute einsetzt. Schmidt-Dengler hatte eine große Familie, voran die eigene, dann seine Schülerschaft und schließlich die Autorenfamilie. Sie ist vielleicht seine eigentliche Hinterlassenschaft, der Schatten, den seine Person posthum wirft.

Michael Rohrwasser, Wien

„Wäre es nicht wunderbar, diesen Mann bei einer langen Bahnfahrt durch Österreich zum Reisebegleiter zu haben?“ fragt Lothar Müller in seinem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung. So ist es, antworten wir, die wir solche Bahnfahrten mit ihm unternommen haben, und fügen wehmütig hinzu: Wir haben dieses Privileg für selbstverständlich genommen, und jetzt müssen wir ohne ihn weiterfahren. Wenn das geht. Wir können ihn nicht mehr um Rat fragen, keinen Hinweisen mehr folgen, kein Zitat nachhören, keine kritische Würdigung fremder und eigener Arbeiten einholen, obwohl wir immer noch seine Stimme im Ohr haben.
Meine österreichischen Freunde konnten viele Facetten und Nuancen seines Wirkens als Lehrer, Erzähler und Impulsgeber wahrnehmen, während für mich, der ich ihn erst 1991 kennengelernt habe, erst einmal ein Grundkurs in österreichischer Literatur angesetzt wurde, damals in Stanford. Ich traf ihn dort zuerst, wo sonst, in der Bibliothek, wo ich ihn, umgeben von Bücherstapeln, traf: Wendelin Schmidt-Dengler, den leidenschaftlichen Leser. Unser erster Dialog ging etwa so: Man kann nicht alle Bücher dieser Welt lesen – aber man kann es zumindest versuchen – immerhin, so schränkte er ein, gebe es auch einige, mit denen man sich nicht näher einlassen wolle.
Er war nicht nur damals und nicht nur zu mir großzügig – er war es gegenüber vielen, die weniger gelesen hatten und weniger schnell waren (also: gegenüber allen). Er hat sich unterschieden von seinen Kollegen, den Literaturhistorikern, von jenen nämlich, die als ihren heimlichen Schutzpatron Prokrustes verehren, die ihre Anschauungen durch ein Zuviel an Lektüre gefährdet glauben: ein Unpassendes wird abgeschnitten, ein Unzureichendes wird gedehnt („Lesen macht befangen“ heißt eine Devise, die auch in Kommissionen immer mehr Anhänger findet). Seine Gegner haben es sich leicht gemacht, wenn sie ihn zum großen Unterhalter und Plauderer herabwürdigten („Mann mit Formulierungsgabe“ stand in einem der Nachrufe), denn für den kleinen Appetit hat er nicht gelehrt, Literatur wurde bei ihm nicht verharmlost und verkleinert zum mundgerechten Happen, zum Event, Literatur war nicht zuletzt Beunruhigung, Provokation, auch Tröstung, und hier ging er nicht selten Bündnisse mit seinen Autoren ein.
Was mir damals zuerst auffiel, neben seiner stupenden Belesenheit, seinem phänomenalen Gedächtnis, neben seiner Fähigkeit, zum Lesen anzustiften und eigene Urteile zu überprüfen, neben seinen innovativen Blicken auf Texte und Autoren, die immer genau, unerbittlich, ja streng waren, das war seine Fähigkeit, sich in die Autorinnen und Autoren zu verwandeln. Mit einer kleinen Drehung seiner Hand, aus dem Ellbogengelenk heraus, war er plötzlich Gerhard Rühm oder Ernst Jandl, was ich spätestens dann verstand, als ich die Originale sprechen hörte.
Lesen und Leben waren bei ihm nicht getrennt, weil er auch beim Lesen alle seine Sinne geöffnet hatte. Er kannte keine kanonischen Hierarchien und, wo er die Quellen kannte, respektierte er auch keine Lehrmeinungen, so wenig wie er jenseits der Bücher den akademischen Hierarchien Respekt zollte: Er erkannte die akademischen Nichtleser und die autoritätsbeflissenen Nichtsnutze, und er hielt sich, wenn es irgend ging, von ihnen fern. Er konnte jenen den Rücken zuwenden, die in Selbstverliebtheit von ihrer Liebe zur Literatur sprachen und dabei ihre Stimme vibrieren ließen. Gleichwohl hat er die Wiener Germanistik geprägt wie kein anderer, und das in einer seltsamen, unheimlichen Bündelung: als Lehrer, Betreuer und Förderer (wer wollte sich da mit ihm messen?), und auch als wissenschaftlicher Autor, der für seine Autoren Revisionsverfahren anstrengte, sie nicht selten von falschen Etiketten befreite. Es war eine Sisyphus-Arbeit, denn in einigen Fällen überlebten auf dem Literaturmarkt nicht seine kritischen Editionen sondern die verharmlosenden Lesarten (etwa bei Herzmanovsky-Orlando).
Schmidt-Denglers Stärke hat ihre Wurzeln gewiss auch außerhalb der akademischen Welt. Wir kennen alle die Sentenz, die in der hier zitierten Variante Jean Cocteau zugeschrieben wird: Wer nur etwas von Film versteht, versteht auch davon nichts. Hätte Schmidt-Dengler nur Augen für Bücher und für die Wiener Germanistik gehabt, hätte er auch hier keine starken Spuren hinterlassen können. Das heißt, dass wir auf den Bahnfahrten und Flügen und Autofahrten mit ihm nicht nur etwas über (österreichische) Literatur lernten – am Rande gesagt: seine Liebe zur österreichischen Literatur war nie, wie bei einigen anderen, verbunden mit der Missachtung anderer Literaturen, denn dazu war er ein zu leidenschaftlicher Liebhaber der Weltliteratur –, sondern die Gespräche zogen weite Kreise über Vereinsgeschichten, über europäische Geschichte, über den homo academicus, Erziehungsfragen und Bauernregeln. Die größten Literatursüchtigen, die unermüdlichsten Lesenden und Schreibenden sind gerade jene, die nicht in der Literatur als einer Scheinwelt verschwinden, die keine billigen Tröstungen suchen, nämlich ein Vergessen, sondern sich gerade hier ihre Genauigkeit für den Alltag gewinnen. Denn das machte das Eigene von Wendelin Schmidt-Dengler aus – und warum soll man nicht von Größe sprechen – dass seine gesellschaftspolitische Einmischung und sein universitätspolitischer Einspruch ebenso luzide und unbestechlich waren wie sein literarisches Urteil.
Wir haben den Größten verloren.

Karlheinz Rossbacher, Salzburg

Es sollten sechs Tage des Lockerlassens werden. Im Frühsommer vereinbart, aber doch erst kurzfristig fixiert, begrüßten meine Frau und ich Maria und Wendelin Schmidt-Dengler in einem Thermenhotel in Montegrotto. Wendelin hatte, mitten im Sommer, den andere für Ferien oder gelassenere feriale Arbeiten nützen, zwischen einem Fortbildungsseminar in Prein an der Rax und einer anderen, natürlich ebenfalls beruflichen Verpflichtung in Lemberg Zeit gefunden, zu kurze ohnehin. Natürlich hatte er eine Büchertasche dabei; die Verantwortlichen für den jährlichen Buchpreis hatten bald heraus gefunden, dass man Wendelin Schmidt-Dengler die dicksten Wälzer zur Bewertung anvertrauen konnte. Wendelin hat Goethe geliebt, aber dessen rhythmischen, gesundheitsfestigenden Wechsel von Systole und Diastole in Alltag und Arbeit hatte er nicht übernommen. Stressige Situationen nannte er bloß „wirbelig“.
Das Hotel zeigte sich von seiner mediterranen Seite. Der Park, das Thermalwasser, das Essen, die Temperaturen: es stimmte. Am vierten Tag ein kurzer Ausflug zu einer venezianischen Villa; da begann die Erkrankung („kenne ich schon, habe es schon drei Mal gehabt, nein, bitte keinen Arzt“). Die Abreise dann wie geplant, das SMS Marias mit der Nachricht, wohlbehalten in Wien angekommen zu sein, dann eine weitere Information, dass eine Operation notwendig geworden, aber gut verlaufen sei, dann zwei Tage später die horrible Nachricht von Wendelins Ableben. Fassungslosigkeit.
Wendelins Rat und seine Taten waren in Permanenz gefragt, auch bei uns in Salzburg, wo er, Fachbereichsleiter Karl Müller hat es in seinem Kondolenzschreiben an das Wiener Institut gewürdigt, wertvolle Hilfestellungen leistete. Sein Grundhabitus war der des Gebens. Es steht für mich fest, dass er niemals so viel zurück erhalten hat, wie er als Forscher, als Lehrer, als Betreuer, als Initiator anderen zu geben hatte. Seiner Initiative, seiner Großzügigkeit, ist es zu verdanken, dass die „Österreichische Gesellschaft für Germanistik“ jährlich einen oder zwei Wissenschaftspreise für Nachwuchsgermanisten verleihen kann. Seiner Fürsorge verdanken viele Franz-Werfel-Stipendiaten wissenschaftliche und auch materielle Unterstützung. Und so fort.
Über die Zeit nach seiner Emeritierung, es waren doch bloß zwei Jahre bis dahin, haben wir nicht gesprochen, nur über meine jetzt. Einmal nur entschlüpfte ihm: „Und dann wird geschrieben.“ Dann? Als ob er nicht schon längst so viel Wichtiges und Bahnbrechendes verfasst hätte, dass ständiges Staunen und Von-ihm-Lernen die angemessene Haltung ist.
Im Frühjahr 1979 traf ich Wendelin in Houston bei einem der damals erst in Schwung kommenden Tagungen zur Wiener Moderne. Für seinen Flug nach Iowa gab ich ihm Kurt Vonneguts Roman „Slaughterhouse Five“ mit, froh, eine Lektüre gefunden zu haben, die er nicht schon kannte. (Sicher war die Flugzeit länger, als er, der Schnell-Leser, dem nichts entging und der auch alles im Gedächtnis behielt, für das Buch benötigte.) Das „So it goes.“ in Vonneguts Buch wurde zu einem Codewort. Wir benützten es, wenn wir uns über Unglaublichkeiten im akademischen Betrieb austauschten. Nunmehr kommt eine ganz andere, unmittelbar persönliche und traurige Bedeutung dazu. So it goes.
Die wie er in Zagreb geborene Schriftstellerin Dubravka Ugresic, für die Wendelin Schmidt-Dengler aus Anlass der Verleihung des „Großen österreichischen Staatspreises für europäische Literatur“ die Laudatio gehalten hat, hat geschrieben, man könne nur zwei Dinge im Leben nicht wählen: die eigene Geburt und die Kollegen. Sie meint es an jener Stelle in einem bitteren Sinne. Das konnte in einigen Fällen, hinzu gezählt eine Ministerin, auch auf Wendelin Schmidt-Dengler zutreffen. Man kann es aber auch ganz anders lesen: Man wünschte und wählte sich ihn, der die Kolleginnen und Kollegen mit seinen Forschungen und die Studierenden mit seiner Lehre beschenkte, als Freund. Für viele wurde er es, auch für mich. Das erfüllt bei aller Trauer, die nun vorherrscht, mit Dankbarkeit und Freude, die bleiben werden. Die kaum drei Wochen alten Nachbilder im Kopf, zum Beispiel mit Maria und Wendelin an einem Tisch neben dem ihr Heilwasser hervorsprudelnden „fonte de la salute“ – wäre diese Quelle doch ihrem Namen gerecht geworden! – sind unabweisbar. Sie sollen nicht verblassen!
Wendelin Schmidt-Dengler hatte spontan zugesagt, für ein im November in Salzburg geplantes Symposion einen Beitrag zum Thema Literaturwissenschaft und Literaturkritik zu übernehmen. Wer sonst als er, der renommierteste österreichische Literaturwissenschafter und Staatspreisträger für Literaturkritik, hätte besser darüber sprechen können? Die Veranstalter werden für diesen Beitrag keinen Ersatz suchen. Sie wollen damit ausdrücken, dass Wendelin Schmidt-Dengler unersetzlich ist.

Hermann Schlösser, Wien

Im Frühjahr 1984 wurde an der Universität Pisa ein Symposium zu Stefan George veranstaltet, an dem Wendelin Schmidt-Dengler als Referent beteiligt war. Im Unterschied zu allen anderen Vortragenden sprach er nicht über George „als solchen“, sondern konzentrierte sich auf einen einzigen, scheinbar marginalen Aspekt: Er analysierte das Gedicht „Aufruf!“, das im November 1933 unter Georges Namen in den „Burschenschaftlichen Blättern“ erschienen ist, und als Bekenntnis zu Hitlers Machtergreifung verstanden werden kann.
Dieses durchaus peinliche Poem beginnt mit den Worten: „Die Fahne haltet rein!“  Als Schmidt-Dengler auf diesen Imperativ zu sprechen kam, wich er in der würdigen Aula der „Facoltá di Lingue e letterature straniere“ von seinem Vortragsmanuskript ab und sagte, einem plötzlichen Geistesblitz folgend: „Diese Aufforderung zum Fahnenputzen erinnert mich an die Gedichtzeile von Ernst Jandl: ‚There is a fleck on the flag. Let’s putz!‘“ Das wäre weder einem reinen George- noch einem ausschließlichen Jandl-Kenner eingefallen. Doch kostete der Redner seine verblüffende Pointe nicht weiter aus, erläuterte auch nicht ihren Erkenntniswert, sondern folgte sofort wieder seinem geschriebenen Text, als ob nichts geschehen wäre. Auch in der Druckfassung des Vortrags sucht man den Hinweis auf „Let’s putz!“ vergebens.
Einer der damaligen Zuhörer – 1984 Lektor für Deutsch in Pisa, heute Kulturjournalist in Wien – war von dieser kleinen, nicht restlos begründeten Abschweifung aber sehr bezaubert, weshalb er sie auch nie vergessen hat.
Nun gehörten solche geistreichen Überraschungscoups zu Schmidt-Denglers Redestil, und sie trugen wesentlich dazu bei, dass man seinen Vorträgen so gerne zuhörte. Wahrscheinlich haben alle seine Freunde, Freundinnen, Schülerinnen und Schüler „ihre“ Schmidt-Dengler-Sätze in Erinnerung („dieses Buch schließt eine Lücke, die vorher nicht als solche empfunden wurde“) und gewiss wird vielen auch nach dem Tod des Redners der Klang seiner markanten Stimme noch lange im Ohr und im Gedächtnis bleiben.
Dennoch sollte man nicht übersehen, dass hier auch ein ernstes Problem verborgen ist: Wendelin Schmidt-Dengler hat ein umfangreiches literaturwissenschaftlich-kritisches Werk hinterlassen, das sich in Zukunft von Stimme und Gestalt seines Urhebers lösen muss, um bestehen zu können. Um beim eingangs zitierten Beispiel zu bleiben: Im Aufsatz „Über einen unbekannten, George zugeschriebenen Text“ [in: Enrico De Angelis (Hrsg.): Stefan George Colloquium, Pisa 1985, S. 50–58.] befasst sich Schmidt-Dengler mit einer Fälschung, und er erwähnt beiläufig, dass es zwar eine Fülle von kunstwissenschaftlichen Studien zum Phänomen der Fälschung gebe, aber kaum literaturwissenschaftliche. Auch aus diesem systematischen Grund erscheint ihm die Beschäftigung mit diesem Gedicht gerechtfertigt. Er zeigt mit Hilfe genauer Textvergleiche, wie dieser „Aufruf!“ aus dem „Wortmaterial“ der Georgeschen Lyrik zusammengesetzt wurde, und er stellt die Frage, welches Interesse hinter einer solchen Fälschung stehen mochte. Seine Antwort: Die Huldigung an den Führer, die George bekanntlich verweigerte, sollte auf diesem Wege doch zustande gebracht werden. Irgendwer wollte nicht zulassen, dass sich George ins vornehme Schweigen zurückzog. Oder, in Schmidt-Denglers Worten: „Aus diesem Falsifikat ist eines zu lernen: wer in einer solchen Situation schweigt, dem wird – früher oder später – ein Kuckucksei ins Nest gelegt.“
Nach genauen Detailuntersuchungen kommt Schmidt-Dengler dann zu einem überzeugenden dialektischen Schluss: Weil Stefan George demonstrativ schwieg, musste ihm das Bekenntnis zu Hitler, das er verweigerte, unterschoben werden. Weil seine authentischen Gedichte aber voller Formulierungen sind, die sich auch in Hitler-Huldigungen gut ausnehmen, bedurfte es keiner großen Kunstanstrengung, um diese Fälschung herzustellen.
In diesem kurzen Aufsatz ist Schmidt-Dengler also ein philologisches Kunststück gelungen: Er stellte ein unsagbar schlechtes Gedicht vor und nutzte diese (nicht eben günstige) Gelegenheit zu bedeutsamen literarhistorischen Einsichten. Meisterleistungen dieser Art gibt es in seinem umfangreichen Werk viele. Man muss nur nach ihnen suchen. Aber deshalb dürfen wir, die derzeit noch Lebenden, uns nicht nur an die schönen Augenblicke erinnern, in denen Schmidt-Dengler von seinen geschriebenen Arbeiten abwich – wir sollten auch seine gedruckten Texte weiterhin lesen und immer wieder neu zu verstehen versuchen.

Elisabeth Schwagerle, Paris

Wie all das, was in Gedanken an Wendelin Schmidt-Dengler in mir ist, was mich bewegt, in Worte fassen? Verschiedenste Bilder blitzen durch meinen Kopf, Erinnerungen an Momente mit ihm, die bei aller Vielfalt doch etwas Gemeinsames hatten: es waren immer besondere Momente, es war ein Fest, ein Zusammenkommen, das belebte, glücklich machte, von dem ich viel Kraft und Freude mitnahm, es waren Zeiten, die ich nicht vergessen werde. Man könnte reden über den großartigen und außergewöhnlichen Wissenschafter Schmidt-Dengler. Das können aber andere besser als ich. Ich möchte vom Menschen sprechen, so wie er sich mir gezeigt hat (und wohl auch vielen anderen). Nie mehr wieder habe ich einen Menschen getroffen, in dem sich Intelligenz, Witz, Menschlichkeit, Herzlichkeit, Wärme und Bescheidenheit dermaßen ideal zusammen fanden. Sein enormes Wissen beschämte, man brauchte nicht mal dran zu denken, es mit ihm aufzunehmen. Mich hat das nie gestört, ich fand es einfach phänomenal, dass er sich an alles erinnerte, was er jemals gelesen oder gelernt hatte. Aber sein Wissen war nie arrogant, es versuchte nicht, den anderen zu erniedrigen, es war gepaart mit unschätzbarem Humor und dadurch immer auch ironisch gebrochen. Als Zuhörer fühlte man sich wohl und musste sich nicht als dumm und ungebildet betrachten. Er war ein Menschenfreund, der die anderen zu sich hoch zog und sie nicht niederdrückte.
Schön war, wie sich seine Pointen ein paar Sekunden zuvor im Mundwinkel ankündigten (man durfte sich also schon darauf freuen) und sagenhaft war die Tatsache, dass er bei Symposien gleichsam – wie soll ich sagen – schlafen? dösen? zumindest die Augen schließen konnte, um dann dennoch zusammenfassend zu sprechen und die intelligenteste Frage zu stellen. Auffallend war auch, dass er bei solchen Gelegenheiten auch lieber alle anwesenden Menschen und nicht nur den Vortragenden allein beobachtete. Ja, er war ein Menschenfreund, Literatur war für ihn Leben.
Gesehen habe ich Schmidt-Dengler das letzte Mal, als ich ihn diesen August nach Salzburg zur Lesung eines unveröffentlichten Handke-Textes eingeladen hatte. Im Anschluss, beim Essen mit Handke und diversen seiner Freunde und Bekannten, zog Schmidt-Dengler mit kindlicher Begeisterung die von Bernhard korrigierten Fahnen von Alte Meister hervor und zeigte sie mir. Handke, am anderen Ende des Tisches sitzend, blinzelte neugierig herüber.
In seinem letzten E-Mail an mich, wenige Zeit danach, schrieb er mir, dass in letzter Zeit doch alles sehr anstrengend gewesen sei und er sich ein wenig erholen wolle. Doch schon im nächsten Satz plante er dieses und jenes, wollte er sich für ein gemeinsames Projekt einsetzen. Die Begeisterung und Liebe für Literatur, seine Menschlichkeit und sein Einsatz für andere haben ihn sich selbst vergessen lassen und ihm mehr von sich abverlangt als ein Mensch schaffen kann, möchte man meinen. Ich hatte sowieso die Vermutung, von ihm gebe es mindestens zwei Exemplare. Er fand das sehr amüsant und hat es übrigens nie verneint. Seine Rastlosigkeit, sein enormes Arbeitspensum rissen mich oft dazu hin, mit ihm zu schimpfen und ihn zu ein bisschen mehr Ruhe zur ermahnen. Er hat sich das angehört und milde gelächelt. Gefreut hat es mich daher regelrecht, als ich ihn auf Reha in Treibach-Althofen wusste, er schien sich dort sehr zu gefallen, klagte überhaupt nicht über die ihm gleichsam aufgezwungene Ruhe und schrieb herzerfrischende E-Mails über die Kraft und Schönheit der Kärntner Landschaft und über als Biene Maja verkleidete Therapeutinnen (es war grad Faschingszeit).
Als ich Peter Handke telefonisch die traurige Nachricht überbrachte, sagte er völlig fassungslos: „Aber ich hab ihm doch vor drei Tagen noch einen Brief geschrieben…“
Leider hat das nichts geholfen.
Gerne hätte ich ihm noch persönlich gesagt, wie wichtig er für mich war und wie gern ich ihn gehabt hab. Doch dafür hat er sich einfach zu schnell, zu unaufgeregt und zu leise verabschiedet. Er wird mir entsetzlich fehlen.

Egon Schwarz, St. Louis

Ich war mit Schmidt-Dengler seit Jahren befreundet. Ich traf mich mit ihm in der Gösser Bierklinik, als er noch längst kein Professor war und ich dachte mir, daß der Wiener Germanistik nicht zu helfen sei, wenn sie dieses Talent nicht anerkannte. Und bin nicht ganz sicher, daß es die Wiener Germanistik war, die ihn zu Rang und Ansehen berief. Meine letzte Begegnung mit ihm und seiner Frau fand im Februar dieses Jahres zufällig auf der Währinger Strasse statt, ich glaube an dem Tag, an dem beide nach Santiago de Compostela aufbrachen. Ihr habe ich gestern einen Kondolenzbrief geschrieben. Die intimste Begegnung mit ihm geschah, ohne daß wir einander sahen, als er in unserem Haus in St. Louis wohnte. Das hatte ich ihm angeboten, als er hier Gastprofessor war und es doch leer stand, während ich mit meiner Frau an der Rutgers University gastierte. Es tat mir gut zu wissen, daß er unter meinen Büchern und Memorabilien lebte.
P.S. Er schrieb, ich glaube zu einem meiner Geburtstage, eine Art „Nachruf zu Lebzeiten“ im „Standard“, der mir jetzt dreifach wertvoll ist.

Ernst Seibert, Wien

Wendelin Schmidt-Dengler in memoriam

Lange nicht war eine solche Welle der Bestürzung und der Betroffenheit sowohl auf universitärer Ebene als auch bei den Literatur- und Kulturschaffenden sowie in weitesten Kreisen der Öffentlichkeit zu verspüren, wie an diesem 8. September, an dem sich die Nachricht von dem tags zuvor verstorbenen Doyen der österreichischen Germanistik im Lande verbreitete. Bald auch trafen aus allen Landen, wo immer er nicht nur als Repräsentant der Germanistik, sondern gleichermaßen als Mentor und als Kritiker des österreichischen Geistes- und Kulturlebens wahrgenommen und als Redner in unzähligen Veranstaltungen willkommen geheißen worden war, Bekundungen des Beileids ein. Anlässlich seines 60. Geburtstages ist 2002 eine kleine Festschrift mit dem schlichten und eben deshalb zutreffenden Titel „Der Germanist“ erschienen. Sie widerspiegelt vor allem die Wertschätzung, die „Österreichische Autorinnen und Autoren über den Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler“ (so der Untertitel) zu schreiben veranlassten.
Wendelin Schmidt-Dengler gehörte bei all den Aufgaben, die er sich über Forschung und Lehre hinaus auferlegte, und denen er mit unvergleichlichem Einsatz an Rhetorik und an Überzeugungsfähigkeit nachkam, zu jenen Germanisten, die auch der Literatur für Kinder und Jugendliche und der mit ihr befassten Forschung Aufmerksamkeit widmen. Schon in den 1990er Jahren, als diese Disziplin der Literaturwissenschaft in Österreich noch um Anerkennung zu ringen hatte, ist er einer entsprechenden Einladung gefolgt und hat die 30. Tagung des „Instituts für Jugendliteratur“ mit einem Referat eröffnet, das bis heute vielfach zitiert wird. In den Folgejahren hat vor allem die „Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteratur-Forschung“ Wendelin Schmidt-Dengler viel zu verdanken. Gleich nach der Gründung 2000 hat er als Vorstand des Wiener Germanistischen Instituts der Gesellschaft nicht nur virtuell, sondern auch realiter einen Platz eingeräumt, einen Arbeitsraum, in dem seither einschlägige internationale Tagungen organisiert und in einer Schriftenreihe dokumentiert werden und die Fachzeitschrift „libri liberorum“ herausgegeben wird, die einen Diskurs zu dieser Disziplin zu entwickeln versucht.
Alle Wertschätzung, die die hier tätigen Germanistinnen und Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler entgegen bringen, war immer auch verbunden mit Dankbarkeit für die Entfaltungsmöglichkeit dieses in Österreich im Aufbau befindlichen Teilgebietes der Geistes- und Kulturwissenschaften an diesem Ort. Erst auf dieser Basis wurde es möglich, über die Germanistik hinaus auch andere Institute und Institutionen bis hin zur Akademie der Wissenschaften zu einer auf das Kinderbuch und seine Bedeutung in Geschichte und Gegenwart konzentrierten Zusammenarbeit anzusprechen, ein Bemühen, dem Wendelin Schmidt-Dengler wie nur wenige seine anhaltende Unterstützung zuteil werden ließ.
Die beigegebenen Bilder bezeugen sein Engagement auch auf diesem Sektor des literarischen Lebens, der als Keimfeld des Literaturverständnisses, aber auch negativer literarischer Prägungen und damit als ein weithin unterschätzter sehr ambivalenter Bildungsfaktor zu betrachten ist. Wendelin Schmidt-Dengler betreute selbst Diplomarbeiten und Dissertationen zur Kinder- und Jugendliteratur, er war zugegen bei der Ehrung für Viktor Böhm, dem einmal so genannten Anchormann der Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich, und er war zugegen bei der Ehrung für Renate Welsh anlässlich der Feier ihres 70sten Geburtstages, beides in der Universität Wien. Wo Wendelin Schmidt-Dengler war, war er jeweils nicht nur zugegen, sondern stand auch selbst immer im Mittelpunkt, auch wenn er das gar nicht wollte. In seiner Rede anlässlich des letztgenannten Anlasses nannte er die in Österreich erst langsam im Aufbau begriffenen Kinderbuchforschung eine Hypothek, „die zu tilgen mehrere Anlässe bestehen: Getilgt kann sie nur dadurch werden, dass die Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur nicht mehr in jener marginalen Position belassen wird, die sie derzeit im Forschungs- und Lehrbetrieb einnimmt, sondern in deren Zentrum rückt, wie dies ja andernorts der Fall bereits ist.“
So wie Wendelin Schmidt-Dengler in so vielen Teilgebieten der Literaturwissenschaft präsent war, war er dies auch als Mentor auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteraturforschung, und so wie seine ganz einmalige Art der Präsenz und des Stellung-Nehmens weit über die Germanistik hinaus im kulturellen Leben vermisst werden, gleichzeitig aber auch Aufgabe sein wird, wird sie auch im anwachsenden Kreis der Kinderbuchforscher vermisst werden und anspruchsvolle Aufgabe zugleich sein.

Monika Seidl, Wien

„Kommen Sie, kommen Sie, es könnte interessant werden“, hat er mich vor Jahren bedrängt ins Unterrichtsministerium zu kommen, als ihm 1994 der Staatspreis für Literaturkritik verliehen wurde. Und als Anglistin traute ich meinen Augen nicht, als plötzlich Salman Rushdie beinahe über meine langen Beine stolperte. Immer für solche Überraschungen gut, wird mein Leben nun um Einiges ärmer sein, denn bei ihm konnte ich immer sicher sein, dass es interessant wird; auch ohne Vorankündigung. 

 

Imbi Sooman, Wien

Erinnerungen

„Frag’ doch Wendelin Schmidt-Dengler“, riet mir ein Kollege aus der Altgermanistik, als ich als junge Lektorin jemanden suchte, den ich über „österreichische Literatur“ für den Schwedischen Rundfunk interviewen könnte. Ich erinnere mich an seine sofortige freundliche Zusage und wie ich in der Hanuschgasse vor seiner Tür wartend die halbe Welt ein- und ausgehen sah. Als ich dann schließlich zu ihm hinein konnte, war ich unmittelbar von der Abwesenheit des damals gängigen herablassenden Professorengehabes schockiert. Er sprach ja mit mir ganz wie ein normaler Mensch, wie mein eigener Professor Carl Fehrman in Lund, zwar zu schnell, aber dafür echt gescheit und irgendwie „gleichberechtigt“, denn er schien auch wirklich meine Kommentare zu schätzen!
Ich wurde gleich in seinen Bann gezogen, fühlte mich plötzlich ein bisschen mehr zu Hause hier…
Etwas müde sah er aus, war wohl schon damals für zu viele da…
Um Jahre später erfuhr er von mir zufälligerweise in der Straßenbahn (da wohnte ich schon in Gersthof und war wiederholt schockiert gewesen, dass er oft, als er mich sah, sein Buch, das er ja meistens las, wieder einpackte und mit mir tratschte, denn ich wusste inzwischen, was für ein großer Geist er war und wir kannten uns ja gar nicht), dass ich auf ein selbst organisiertes Vortragssemester in die USA wollte. Als wären wir alte Freunde gewesen, hat er mir die absolut beste Adresse dort gegeben, die von Ivar Ivask (quasi damals Exil-Estlands Schmidt-Dengler) und auch gleich Ivask geschrieben und mich nachdrücklich empfohlen.
Er gab Kraft und Mut, denn er zeigte Wertschätzung, auch „kleinen Lektorinnen“ gegenüber und war sich nicht zu schade mit solchen literaturwissenschaftliche Themen zu besprechen, wusste sogar, dass wir in Skandinavien schon damals eine Literaturwissenschaft hatten, die über die philologischen Grenzen ging. Zudem las er Bücher, sogar neu erschienene.
Auch war er weit vor seiner Zeit, denn er hatte die „vergessenen Sprachen und Kulturen“ nicht vergessen und stellte mir nie die klassischen „Exotenfragen“ zum Heimatland meiner Eltern…
Aber auch über mein eigenes Heimatland wusste er gut Bescheid. Er muss z.B. gewusst haben, dass wir in Schweden eine eurokommunistische Partei hatten, denn als ich ihn mal bei den Wahlurnen in Gersthof traf und meine Absicht,  für die KPÖ zu stimmen verlautbarte, gab er mir den Ratschlag, es vielleicht doch mit einer anderen Partei zu versuchen. Seine komparativen gesellschaftspolitischen Erläuterungen dazu waren nicht nur emotionsfrei, sondern vor allem auch zutreffend.
Viele Professoren in seiner Position hätte mein „Outing“ nervös gemacht (in Österreich spricht man ja nicht über Parteipolitik, jedenfalls tat man es nicht an der Universität Wien damals), sie hätten es verdrängt oder mal hinter vorgehaltener Hand…
Ich erinnere mich auch daran, als er einige Jahre später an einer Fortbildung für Deutschlehrende an der Universität Tartu teilnahm und meine penetranten didaktischen Anweisungen (ich hatte das Gefühl er höre nicht zu – vielleicht tat er das auch nicht – und wiederholte mich deswegen, außerdem hatte ich plötzlich Angst bekommen, er wäre doch kein passender Referent in diesem Zusammenhang), er solle nicht über die Köpfe dieser MittelschullehrerInnen hinweg reden, langsam sprechen etc., geduldig über sich ergehen ließ.  Natürlich sah er nicht auf sie herunter (wozu es ja auch keinen Grund gab, aber manche Lehrende „aus dem Westen“ taten dies und so etwas wurde auch genauestens registriert und vielleicht hatte ich gerade davor die größte Angst gehabt), redete genauso anspruchsvoll und witzig wie immer und nahm trotzdem gleichzeitig auf sie Rücksicht. Alle fühlten sich sicher, angenommen und – so glaube ich jetzt – so zu Hause wie ich damals in der Hanuschgasse.
Und außerdem  beflügelt… Sein fröhlich bissiger, so erfrischender Humor, wir weinten fast vor Lachen.
Wahre Intellektuelle schauen nicht auf andere herunter.
Und dann dieses gute Herz, ich kann es nicht anders nennen. Denn wer sonst tanzt mit einer lästigen „kleinen“ großen Kollegin, nur weil sie plötzlich – aus Erleichterung darüber, dass alles nun doch so gut abgelaufen sei – glaubt, gerade in diesem dunklen „Püssirohukelder“ in Tartu, gerade mit Wendelin Schmidt-Dengler tanzen zu müssen. Und weil sie gerne tanzt.
Nur er tat dies ja nicht, gar nicht, hatte nur ein Herz für andere, „sah“ andere wie es
heißt.
Große Geister müssen sich nicht so ernst nehmen.
Es reihen sich Erinnerungen an, öfters drehte es sich ums Geben und ich war diejenige, etwas bekam.
Es gab da z.B. ein Projekt, ein Symposium zum Millennium Österreichs in Tallinn: die damals noch rabiaten EstInnen hatten im letzten Moment im Österreichischen Außenamt interveniert, um mich, quasi als Vorkämpferin der Teilnahme der RussInnen Estlands daran, aus dem Symposium in Tallinn herausnehmen zu lassen, eine Bitte der eine hiesige Ministerialbeamtin in kühler Weise sofort nachkommen wollte.
Ich hatte zwar sehr viel Arbeit investiert, packte meine Koffer aber schon wieder aus, weil mir im Moment die Kraft für das unehrenhafte „Kämpfen für sich selber“ fehlte, und erklärte Wendelin Schmidt-Dengler, dass da nichts zu machen sei und dass ich dort in keiner Weise unersetzbar wäre.
Er aber schrieb gleich der feigen Beamtin kurz und knapp: „Entweder fahren wir mit der Kollegin Sooman oder gar nicht“.
Nachher war Ruhe – von beiden Seiten.
Wie viele hätten dies gemacht?
Ich habe so oft erlebt und erfahren, wie geschätzt er war. Weil er sich nicht zu schade war, den Menschen zu helfen und sich engagieren zu wollen. Zum Beispiel in diesem anfänglich doch von vielen als „mühsam“ erlebten „Osten“. Es musste die neue Beziehung ja mühsam sein, mit all den aufgestauten Erwartungen und langzeitigen Fehlinformationen, mit diesen Projektionen von beiden Seiten… Dies verstand er alles, nahm es im Kauf und hatte dabei selber nicht einmal Wurzeln dort.
Er reagierte auf die Öffnung, wie ein leidenschaftlich liebender Intellektueller. Sie war spannend für ihn, machte Neuland frei, das betreten werden musste… Man konnte ihn manchmal im Institut ganz früh mit einem Koffer direkt von irgendwo begegnen, er hatte auch da immer etwas zu erzählen. „Diese Formulerung muss ich mir so bemerken, genauso“, dachte ich mir dabei oft.
Auch dann fühlte ich mich zu Hause, weil in der Welt.
Es ist schade, dass ich keinen anderen Begriff als den schon so versandelten „Grenzgängerin“ finden kann. Denn er war einer. Oder, denke ich jetzt, musste es nicht mal sein, da die Literatur als existentieller Dialog und der Dialog über sie verbindet(e) und beide Dialoge die Luft zum Atmen für ihn waren. Er sah den Text, den Menschen (oder umgekehrt), nicht die Grenzen.
Für die StipendiatInnen aus Estland hatte er immer Zeit, eine ist heute Leiterin der Germanistik in Tallinn, die andere Professorin der Literaturwissenschaft in Tartu.
Daran hat Wendelin Schmidt-Dengler einen großen Anteil.
In der Fakultät hatte ich ihn offen kämpfend erlebt, mit genialen Diskussionsbeiträgen, nun wurde er plötzlich Vorstand. Auch dies tat er mit vollem Herz, versuchte demokratisch sein, war es auch, hatte immer ein offenes Ohr für die Anliegen der Studierenden. Es tat mir weh zu sehen, wie sein Geist an dem Ganzen müde wurde.
Ich erinnere unseren einzigen Streit. Er hatte mir zu hohe Telefonrechnungen vorgeworfen und angedeutet, dass sie nicht nötig seien, wonach ich ihm erklärte, was ich alles so Wichtiges in der Welt machte und er schließlich fragte, ob ich nicht doch auch mailen könne…
Die Rechnungen waren tatsächlich sehr hoch gewesen, aber ich war eben nicht daran gewöhnt, von ihm kritisiert zu werden, so habe ihm noch „Professorenbenehmen“ vorgeworfen.
Sehr bald konnten wir darüber lachen.
Auch die schwere Trennung der Skandinavistik von der Germanistik haben wir überstanden.
Zu meinem Sechzigsten stand er plötzlich da, bei unserer Feier unten in der Skandinavistik, mit einem großen Blumenstrauß und hielt eine witzige Ansprache. Der bis dann bedrückende (wer wird schon gerne sechzig…) Geburtstag wurde für mich plötzlich fröhlich.
Er hatte noch eine seltene Eigenschaft: er konnte verzeihen. Wahre Intellektuelle lassen sich nicht ewig von anderen aus der Bahn ziehen. Aber er ist ein „gerader Michel“, sagte er mal über einen Kollegen, dessen Meinungen er nicht teilte, zeigte dabei, was er selber war und sein wollte.
Er verfolgte politische Ziele: dort verbrauchte er viel intellektuelles und emotionales Potential. Dort wurde sein Kampfgeist auch gebraucht, dort wäre er weiterhin gebraucht. Wie oft haben wir nicht auf dem Ring gegen Dummes protestiert.
Ich danke ihm nochmals jetzt für Alles, im Nachhinein. Zu spät, aber er wusste es.
Wusste er das?
Loyalität zeigte er mir, vielleicht Nummer eins von allem, in einer Freundschaft, die zwar nie eine werden konnte aber für mich irgendwie doch eine war. So schmal und doch so tragend…
Oft versuchte ich zurück zu geben, aber das war schwer, ging irgendwie nicht.
Ich werfe mir manchmal vor, dass ich ihm nicht gesagt habe, er solle weniger arbeiten, sich weniger engagieren. Als hätte es geholfen… Hätte flach geklungen, dumm, so wie „du musst weniger lieben“.
Wäre außerdem wohl das, was „zu nahe treten“ heißt. Trete ich ihm jetzt zu nahe?
Eigentlich furchtbar, wenn plötzlich alle „befinden“ dürfen und derjenige, um den es geht, sich gar nicht wehren kann. Wendelin Schmidt-Dengler hätte dazu etwas intelligent Pointiertes und dadurch Tröstendes sagen können.
Er schien in seinem Familienumfeld so fest verankert, das hat mich immer beruhigt.
Und tröstet etwas jetzt. Obwohl es so bitter ungerecht ist, dass es ihn nicht mehr gibt.
Ich denke Wendelin Schmidt-Dengler war doch das, was man „ein glücklicher Mensch“ nennt.
So schade und so traurig für unsere Universität, dass er uns so früh verlassen musste. So schade, dass es keinen wie ihn gibt. Dieser Mut den er hatte, dieser Weitblick und Kampfgeist.
So schade.
Wenn wir aber etwas von dem, was Wendelin Schmidt-Dengler uns gab und vorlebte, weitergeben und umsetzen würden (und dazu brauchen wir nicht seinen großen Geist, es genügt unser eigener), gäbe dies seinem viel zu frühen Tod zwar keinen Sinn aber würde gute Entwicklungen fördern und eine Weise sein, ihn zu ehren.

Nicole Streitler, Wien

Erinnerungen an Wendelin Schmidt-Dengler

Als ich zum Studium von Vorarlberg nach Wien kam, beschlossen meine Freundin und ich, Germanistik zu studieren. Die ältere Schwester meiner Freundin, die schon ein paar Jahre in Wien gelebt hatte und Kunstgeschichte studierte, riet uns: „Da gibt es einen unglaublich witzigen Professor auf der Germanistik, den Schmidt-Dengler. Zu dem müsst ihr unbedingt gehen.“ Wir taten es gleich im ersten Semester und waren sofort infiziert vom Morbus Schmidt-Dengler. Ich habe in der Folge praktisch alle Vorlesungen bei ihm gemacht. Dass ich dabei manch anderen, gleichfalls interessanten Kollegen ignoriert habe, ist mir erst sehr spät bewusst geworden. Aber Wendelin Schmidt-Dengler deckte eben fast alles ab: das 18., das 19. und das 20. Jahrhundert. Von welchem anderen Professor der Neueren Deutschen Literatur konnte man das sagen?
Der stärkste Eindruck bei seinem Vortrag war natürlich der bekannte galoppierende Duktus. Dann fiel die Einfachheit seiner Rede auf, die aber nie banal war. Ein Meister der Lakonie war er. Wenn man ihn genau las, merkte man, welcher Tiefsinn, welche Schärfe des Denkens, welche lebendige Vorstellungskraft hinter dieser Einfachheit steckte.
Deshalb liebte er – wie ich – Musil, der ja nur dem oberflächlichen Leser als schwierig erscheint. Gerne hätte er sich wohl, wie ich es durfte, intensiver mit dem Autor des „Mann ohne Eigenschaften“ beschäftigt. Dass er es letztlich nicht tat, liegt wohl darin begründet, dass er ihm zu ähnlich war.
Einmal sah ich ihn in der Straßenbahn, wie er seine jüngere Tochter Latein-Vokabeln abprüfte.
So sehr er die Studenten liebte, so barsch konnte er mit ihnen verfahren, wenn sie bei Prüfungen nichts konnten. Dann setzte er sie mit einem ordentlichen Theaterdonner einfach vor die Tür.
Als ich einmal gemeinsam mit ihm auf einem Podium saß, staunte ich über den Respekt, den er meiner Arbeit gegenüber aufbrachte und über die Eleganz, mit der er meine Wortäußerungen kommentierte und ergänzte. Immer wusste er einen Querverweis anzubringen, der einem selbst entgangen war. Er gab einem das Gefühl, nur Fußnoten zum Gesagten hinzuzufügen, und doch stand in diesen Fußnoten, wie bei manchen wissenschaftlichen Arbeiten, ganz Wesentliches.
Bei einer Projekt-Genehmigungs-Gartenparty unterhielt er sich lange Zeit auf Italienisch mit einem Universitätsportier aus Rom, der als Freund eines Projektmitarbeiters anwesend war. Worüber er mit ihm sprach, habe ich leider vergessen, aber die Art und Weise, wie er diesen Mann, der bisher eher am Rande gesessen war, in das Gespräch einband, beeindruckte mich zutiefst.
Für den französischen Radiosender France Culture wurde er zu Stifter befragt. Er gab aus dem Stegreif druckreife Miniessays auf Französisch zum Besten.
Als im Literaturarchiv letztes Jahr ein ganzer Reigen von Kindern auf die Welt kam, lud WSD zu einem „Babyheurigen“ ins idyllische Pötzleinsdorf. Leider konnte er nicht allzu lange bleiben, denn er musste weiter zur Geburtstagsfeier seines Enkels Benno. Er hatte für ihn ein Kasperl-Dramolett geschrieben, das er auf der Feier vorzutragen gedachte und zeigte uns stolz die paar Requisiten, die er dafür besorgt hatte, u.a. ein kleiner Feuerwerkskörper, den er auf dem Höhepunkt des Dramoletts zünden wollte.
Wenn er ins Literaturarchiv kam und seine sonoren Begrüßungsworte vernommen wurden, liefen rasch fast alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Vorzimmer zusammen. Jeder wollte ihn sehen, ihn hören und mit ihm plaudern.
Er hatte ein großes Herz. Dass es nicht mehr schlägt, ist für uns alle sehr traurig.

Daniela Strigl, Wien

In memoriam

Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt. Wendelin Schmidt-Dengler hat diesen Satz von Thomas Bernhard gern zitiert. Wir denken in diesen Tagen an den Tod, und wir hadern mit ihm.
Wie viele habe ich den Schmidt-Dengler als die Lichtgestalt der Wiener Germanistik erlebt, als ich nach der Matura schon glaubte, an der falschen Adresse gelandet zu sein. Er war mein Diplom- und Doktorvater, und wir blieben in Kontakt, über die Jahre. In dieser Hinsicht war ich nicht privilegiert, denn so hielt er es mit seinen Leuten, er behielt sie im Auge, als Mentor und als Kritiker, er regte Projekte an, machte Vorschläge, er war da. Privilegiert war ich durch den Umstand, daß ich ihm als Assistentin im letzten Jahr wieder näher gerückt bin, auch buchstäblich, als Zimmernachbarin. Das bescherte mir amüsante und lehrreiche Gespräche über Gott und die Welt und natürlich über Lektüren. Ihm einmal ein Buch empfehlen zu können, war ein seltenes Vergnügen: Er hatte alles immer schon gelesen, die Klassiker sowieso, aber auch die neuesten Neuerscheinungen und die Rezensionen darüber.
Wofür man Professor Schmidt-Dengler bewundern mußte, liegt auf der Hand: für sein Wissen und seinen Witz, für seine Klugheit und Eloquenz, für den Eigensinn seiner Sichtweisen, für die Prägnanz seines Stils, für seine unzeitgemäße humanistische Bildung ohne Dünkel, ohne elitäres Gehabe. Lieben mußte man ihn für die Leidenschaft, mit der er tat, was tat. Für den Eros des Worts und des Sports – ob er griechische Oden deklamierte oder die Aufstellung des SK Rapid: er war ein Entflammter. Sein wundersames Gedächtnis bewahrte nicht nur Literarisches auf. Als wir in seinem Zimmer diskret auf den jüngsten Meistertitel anstießen (Schmidt-Dengler meinte einmal, eine grün-weiße Gesinnung sei ein Anstellungserfordernis), verblüffte er mich durch einen Kurzvortrag über alle Rapid-Titelgewinne seit den fünfziger Jahren.
Dieser Enthusiasmus brachte ihn dazu, sich selbst ein so ungeheures Arbeitspensum zuzumuten. Es war ein Ausdruck von Lebensfreude. Er hat, glaube ich, (fast alles) was er gemacht hat, sehr gern gemacht und wollte deshalb nichts streichen. Bekanntlich war es ihm sogar möglich, zwei zur selben Zeit angesetzte Abendveranstaltungen wahrzunehmen, jedenfalls innerhalb einer Stadt. Wer in Wien lebte, der begann an den Mythos von Schmidt-Denglers Ubiquitarität zu glauben. Der Vielbeschäftigte mochte aber auch einfach niemanden durch eine Absage enttäuschen. Wendelin Schmidt-Dengler war liebenswürdig in jeder Bedeutung des Wortes. Er hat Legionen von Studenten, Kollegen und Autoren geholfen, er wimmelte niemanden ab. Gerade gegenüber Jüngeren war er von ausnehmender Höflichkeit, seine Schülerinnen und Schüler hat er stets mit ihren unter seiner Schirmherrschaft erworbenen akademischen Titeln angesprochen – mehr als nur ein Tribut an österreichische Tradition, vielmehr eine Form von Respekt, die mit Noblesse zu tun hat.
Bei aller stets gelebten Liebe zum demokratischen Prinzip war Wendelin Schmidt-Dengler ein Herr. Er hat das vornehmlich jene fühlen lassen, die Widerspruch nicht gewohnt waren. Politikern und Universitätsfunktionären hat er seine Meinung mit einem Mut gesagt, den andere, denen auch „nichts passieren“ konnte, nicht aufgebracht haben.
So harmoniebedürftig er in seiner engeren Umgebung war, so genüßlich hat er seine Fehden gepflegt. Wo er Dummheit und Gewäsch bemerkte, wo er die Regeln des Anstands, des Fairplay verletzt sah, geriet er in Rage. Dabei war er nicht zimperlich, aber – keine Selbstverständlichkeit für einen gescheiten und witzsprühenden Menschen – auch nicht zynisch.
Meinungsverschiedenheiten im wörtlichen Sinn, also verschiedene Meinungen über einzelne Schriftsteller und ihre Werke, hat er souverän ausgehalten, er brauchte die totale Zustimmung nicht. Als ich bei ihm über Theodor Kramer dissertierte, der nicht sein Vorschlag war und sicher auch nicht sein Lieblingsdichter, meinte er, es sei schon viel wert, die Lektüre von Tausenden Kramer-Gedichten ohne psychischen Schaden zu überstehen.
Über Preise und Ehrungen konnte Wendelin Schmidt-Dengler sich freuen, richtig freuen, dem Zirkus akademischer Eitelkeiten hat er sich jedoch verweigert. Eine Festschrift im üblichen Sinn wollte ihm niemand zumuten, und anläßlich seines 65. Geburtstages war ihm ein Symposion zu seinen Ehren nur durch einen Trick schmackhaft zu machen: Im Mittelpunkt sollte die Literatur, sollten Schriftsteller stehen (die Autoren der Wiener Gruppe) – und bestritten wurde es von seinen Schülerinnen und Schülern. Als ein leiser und aufmerksamer Zaungast hat der Jubilar das Fest in Mürzzuschlag dann sichtlich genossen.
Thomas Bernhard hat nicht recht. Nicht alles ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt. Lächerlich mögen die Aufregungen und Ärgernisse des Literaturbetriebs wie des akademischen Lebens sein. Der Tod zeigt aber nur nicht nur das Lächerliche in neuem Licht, sondern auch das Erhabene. Er erhellt das Besondere an einem besonderen Menschen, das, was seine Größe ausmacht.
Friedrich Gulda hat seinerzeit die Meldung seines Todes fingiert, ein Jahr später ist er wirklich gestorben. Weil es schwer ist, an den Tod eines so Lebendigen zu glauben, ertappe ich mich zwischen Schlafen und Erwachen bei dem Gedanken, Wendelin Schmidt-Dengler könnte es ihm gleich getan haben, um in den Genuß seiner Nachrufe zu kommen.
Er fehlt an allen Ecken und Enden. Und er fehlt mir.

Juliane Vogel, Konstanz

Im August habe ich Wendelin Schmidt-Dengler noch einmal gesehen. Ich habe ihn aus seinem Zimmer abgeholt, dessen Nebenzimmer ich seit über einem Jahr nicht mehr bewohne. Wir fuhren mit dem Lastenaufzug nach unten, über dessen Benutzung er eine Fehde mit den Universitätsstellen führte. Das Pappschild mit den Anordnungen der Baubehörde riß er begeistert herunter und zitierte dabei den letzten Brief, den er in dieser Sache geschrieben hatte. Wir überquerten den Ring, wie immer, und gingen, wie immer, in Richtung Teinfaltstraße. Wir nahmen Menü 8 und 1 im Restaurant Asia, wie immer, als gäbe es dieses Immer. Wir sprachen über die Lage und dann über Literatur. Ich versuchte, ihn für bestimmte tonstarke Varianten deutscher Tüchtigkeit einzunehmen und hatte keinen Erfolg. Wir sprachen darüber, dass er die Heinrich Heine-Ausgabe, die er bei der Verleihung des Hoffmann und Campe-Preises erhalten sollte, bereits besaß. Dann sprachen wir über Ovid und machten uns Sorgen um die Jungfrau Europa, die nach ihrer Entführung durch den Stier Zeus aus dem Text der Metamorphosen einfach verschwand. Auch die Tatsache, dass wir uns in Europa befanden, konnte uns nicht darüber beruhigen, dass sie auf einmal weg war. Dann redeten wir über die Blankverse in Goethes Natürlicher Tochter, ein Vergnügen, das wenige mit uns teilen würden und das ich mit niemandem teilen möchte. Wie immer in wenigen Sätzen beschrieb er ein für allemal deren Form. Wir mussten aufhören, da er wie immer im Archiv erwartet wurde. Unsere Mittagessen nahmen wir meistens auf halbem Weg zwischen hier und dort. Wir verabschiedeten uns für nur wenige Wochen. Ich habe ihn fast dreißig Jahre lang gekannt. Seitdem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, war er einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Mein erster Blick am Morgen galt dem Widerschein seines Fensters auf dem Boden vor seiner offenen Tür. Wenn er klar und deutlich zu sehen war, war es gut. Wenn nicht, schaute ich lieber nochmals hin, um mich nicht gleich mit seiner Abwesenheit abfinden zu müssen. Ich habe mich jeden einzelnen Tag gefreut, ihn zu sehen. Ich bin sehr glücklich, dass er noch ein sehr schönes letztes Jahr hatte, und ich bin glücklich, dass ich so lange in der Nähe eines solchen Menschen arbeiten konnte. Die Bezauberung wird nicht mehr aufhören. Bei Abschieden sagte er immer: „Bleiben Sie mir gewogen.“ Ich werde ihm immer gewogen bleiben. Dieses Immer ist mein sicherer Besitz.

Karl Wagner, Zürich

Wendelin Schmidt-Dengler. Eine Klage.

Kalt gelassen hat er keinen, weil er nicht kalt war und kein Zyniker. Wohl aber war er sarkastisch und  mit einem Witz begabt, der normalerweise für ein ganzes Institut reicht – und oft auch hat reichen müssen. Weil viele – bis heute – glauben, Humorlosigkeit sei mit Ernsthaftigkeit gleichzusetzen (oder deren Voraussetzung), hat er es nicht leicht gehabt. Von den Demütigungen des Betriebs ist auch Wendelin Schmidt-Dengler nicht verschont geblieben. Aber gegen seine Intelligenz, Belesenheit und Hilfsbereitschaft war auf Dauer kein noch so giftiges Kraut gewachsen.
Seine Schnelligkeit, für den Witz unerlässlich, hat manche, die gewohnt sind, ihre Irrtümer mit großer Pedanterie auszuarbeiten, dazu verleitet, ihn für vorschnell zu halten. In Wahrheit beherrschte er lediglich etwas, das selten ist: schnell und gut zu denken. Sein Urteil war treffsicher und nie dogmatisch; keine Rede über ihn ist törichter als das Klischee vom (österreichischen) „Literaturpapst“. In einer Studentenzeitschrift wurde er einmal als das berühmte Interpretationsduo Schmidt & Dengler bezeichnet: Tatsächlich hat das etwas sehr Einleuchtendes für uns Langsame. Angesichts seiner immensen Produktivität hat es ja auch etwas Tröstendes zu denken, es seien zwei am Werk gewesen: zumindest zwei. Und das nicht nur beim Schreiben, sondern auch bei den vielen organisatorischen Aufgaben, die zu übernehmen er sich nie zu schade war. Kein anderer hätte die Aufgaben des Institutsvorstands mit der Leitung des Österreichischen Literaturarchivs vereinbaren können; freilich habe ich ihn mitunter auch sehr müde und verloren gesehen.
Er hat für die Institution der Universität, die ihn oft genug im Stich gelassen hat – und nicht nur die zu Wien – mehr getan als jene Würdenträger, die sich mit dem Rückenwind der politischen Macht als Reformer aufgespielt haben. Die Lächerlichkeit etwa, mit der vor nicht langer Zeit der Slogan von „weltklasseuni.at“ für Österreichs Universitäten propagiert wurde, hat ihn zu Stellungnahmen provoziert, die nichts an Aktualität und Richtigkeit verloren haben.
Weil ein Fach wie die Germanistik einst ein Versprechen war, war und ist sie ein Massenfach, das auch höchstbegabte AbsolventInnen hervorgebracht hat, ohne dass die Gesellschaft dies gewürdigt hätte durch Berufsaussichten, Förderung und Anerkennung. Wendelin Schmidt-Dengler hat mehr als jeder andere diese strukturellen Defizite als persönliche Aufgaben zurückgespielt bekommen. Sein Einsatz für promovierte GermanistInnen ohne Stelle ist nie gewürdigt worden. Sein Versuch, strukturelle Defizite durch persönlichen Einsatz zu kompensieren, war eben so heroisch wie bewunderungswürdig – und der Melancholie günstig. Es wäre ein besonderes Experiment, wenn alle die, die von ihm einmal ein Empfehlungsschreiben oder eine Unterstützung bekommen haben, jetzt auch nur eine Dankeszeile schrieben.
Er war zu gut, um auf die Idee zu verfallen, es gäbe nur (s)eine Eigenart und Methode, mit Literatur umzugehen: Er hat sich nie auf Kosten von germanistischen Versuchen profiliert, die, im Unterschied zu seinen, nicht mit öffentlichem Beifall rechnen durften. Es war auch diese Solidarität zum Fach Germanistik, die ihn zu einer so bemerkenswerten Figur in der österreichischen Nachkriegsgermanistik haben werden lassen. Wie viele haben in seinem Windschatten die Kontroversen des Faches nicht einmal gespürt.
Seine Spezialität, die österreichische Literatur, hat er auch deshalb so glaubwürdig vertreten können, weil er nicht nur mit dieser vertraut war. Er war gewiss der belesenste Mensch, dem ich begegnet bin. Was für ein Glück, gleich im ersten Semester darüber staunen zu dürfen – und ich bin aus dem Staunen nicht herausgekommen. Er hat sich, so scheint es mir immer noch, auch alles gemerkt, was er je gelesen hatte. Sein Gedächtnis war jedenfalls phänomenal. Was aber noch mehr zählt: Bildungsdünkel kannte er nicht. Er wusste um seinen Wert, aber Eitelkeit war ihm fremd.
Er hat wie kein anderer dafür gesorgt, dass die Wiener Germanistik zu einem Ort für ausländische, insbesondere für osteuropäische Studierende geworden ist. Er war, wie alle wissen, ein hinreißender Lehrer; dabei hat er mich seinerzeit oft ratlos aus seinen Lehrveranstaltungen entlassen – wie froh aber war ich, dass er mich nicht mit didaktischem Billigtrost abgespeist hatte.
Schmidt-Dengler, der strikt Antisystematische, hat für die Erforschung der österreichischen Literatur Meilensteine gesetzt. Gegen die beliebte Rede von seiner Medienpräsenz und seiner Fußballbegeisterung (ja, ich war auch mit ihm im Hanappi-Stadion) sei daran erinnert: Er war ein Pionier für die Erforschung der österreichischen Literatur der 20er und 30er Jahre (und damit auch der fatalen Geschichte der Germanistik, die viele ihrer größten ideologischen Irrtümer mit ihrem Gegenstand teilte). Er war ein Pionier auch darin, die Gegenwartsliteratur zu einem Gegenstand der Wissenschaft und des universitären Unterrichts zu machen, als man in Wien und Zürich darüber noch die bildungsbürgerlichen Nasen rümpfte. Mein erstes Proseminar bei ihm – er war noch Assistent – handelte von Thomas Bernhard, wohlgemerkt im Jahre 1971. Ihm ist auch er bis zuletzt treu geblieben: Mit Begeisterung zeigte er noch im Sommer dieses Jahres, beim Fest für Christoph Ransmayr, die Druckfahnen von Bernhards „Alte Meister“ für die bei Suhrkamp erscheinende Werk-Ausgabe. Andere Editionsprojekte wären anzufügen: Herzmanovsky-Orlando, Albert Drach oder Heimito von Doderer. Nicht alle waren gleichermaßen erfolgreich: es ist schade, dass die von ihm initiierte „Österreichische Bibliothek“ der Verlagspolitik zum Opfer fiel. Und er hat, nicht minder bedeutsam, die seit Karl Kraus bestehende Kluft zwischen der Germanistik und den Autoren der Gegenwart überbrücken können. Die Zeugnisse der Anteilnahme von den größten österreichischen Autoren und Autorinnen sind ein eindrucksvoller Beweis.
Zuletzt – und das ist in diesem Betrieb auch nicht so oft der Fall: er war mir ein Lehrer, ein Förderer und ein Freund: Was für ein Verlust, was für ein Schmerz.

Dietrich Weber (†), Rathenow

Trauer um Wendelin

Wenn das Leben vorbei ist, ist alles kostbar, was da zuletzt war. Es strahlt aus und dringt tief ein. Auch und gerade, wenn es nur Geringes war, nur Alltägliches, es war Letztes.
Von Wendelin haben wir zwei letzte Grüße.
Am 25. Juli schrieb er aus seinem steirischen Rückzugsort Mortantsch als einem „Ort, der immer wieder Anlass gibt, sich der so schönen Sommertage zu erinnern, die wir mit Euch vor rund dreißig Jahren hier verbracht haben. Derzeit ist alles voll von Kindern, Philipp brachte Nikolaus und Antonia, Katharina Benno und Bibiana. … Es ist wie damals, die Kinderakteure sind zwar andere, aber die Rituale bleiben.“
Zu unserer Einladung, an der diesjährigen Doderer-Leser-Werkstatt „Rathenower Beutelstiche“ am 13. September teilzunehmen, meinte er: „Wenn irgendwie möglich, komme ich doch am 13. vorbei, aber ich habe da schon früher für etwas zugesagt, wenn das abgesagt wird, steche ich gerne Beutel.“
Rührend ist dann zu lesen: „Ich beginne meinen Rückzug in den Ruhestand vorzubereiten, heuer endet das Archiv, in zwei Jahren die Universität. Das wird mir gut tun …“
Am 23. August folgte seine Absage wegen eines Termins in Lemberg: „Leider hat Lemberg doch zugeschlagen, und das ist genau am 13.9. Ich hatte dort zugesagt, schon vor Monaten, und dann gehofft, die hätten vergessen, auf einmal waren sie vorgestern wieder da. Tut mir sehr leid, weil das eher anstrengend ist, die Beutelstiche wären dahingegen schonend und belebend.“ Unterzeichnet wie immer: „Liebe Grüße, Dir und Wiltrud, Dein Wendelin.“
Das Foto oben zeigt Wendelin Schmidt-Dengler bei den „Beutelstichen“ im vorigen Jahr mit einem Foto Heimito von Doderers im Hintergrund. Auch dies ein kostbar Letztes.

Werner Wintersteiner, Klagenfurt

Nachruf auf einen Großen 

Wendelin Schmidt-Dengler ist nicht mehr. Er, der für mich wie für so viele ein Lehrer, ein Mentor, ein Förderer, ein Kollege war, hat uns unerwartet früh verlassen. Damit haben wir einen äußerst liebenswerten, unruhigen, vor Esprit sprühenden, unglaublich belesenen – einen unvergleichlichen Menschen verloren.
Wendelin Schmidt-Dengler war ein streitbarer Intellektueller im besten Sinne, der mit schlafwandlerischer Präzision und erbarmungslosem Spott gegen den Ungeist in diesem Lande zu Felde zog. Er war ohne Zweifel einer der bedeutendsten Literaturwissenschaftler Österreichs. Mehr noch: Er hatte die Gabe des ansteckenden Enthusiasmus, ihm gelang es durch seine eigene Begeisterung, unzählige Menschen für die Literatur zu gewinnen – auch solche, die mit der Germanistik nichts auf dem Hut hatten.  
Der „Wissenschaftler des Jahres“ 2007 war ein glänzender Kopf, aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, den Wert eines anderen in den Schatten stellen zu wollen. Im Gegenteil, er hat aus eigenen Mitteln einen Preis für junge GermanistInnen ins Leben gerufen. Für uns junge StudentInnen in den 1970er Jahren war er der beste Lehrer von allen, der einzige, der uns ernst nahm und den auch wir protestierenden Jungspunde respektierten. Er setzte sich mit uns auseinander – aber er ließ uns auch seine Ironie spüren. Zum Beispiel, als er den Brief an eine Studentenzeitung mit den Worten begann: „Nachdem sie sich von dem schock erholt haben, dass auch  ich der kleinschreibung mächtig bin, möchte ich festhalten …“ Sein Humor war eine weitere hervorstechende Eigenschaft, die ihn so beliebt machte, mit der er sich aber auch Gegner schuf – zumindest, bis er selbst zu einer Institution wurde. Und diese Institutionalisierung gelang ihm nicht nur aufgrund seiner Verdienste um die Hochkultur, sondern weil er es verstand, auch alltagskulturelle Phänomene, vor allem den so geliebten Fußball, enthusiastisch und kritisch zugleich zu kommentieren.
Ebenso liebenswürdig und humorvoll war er auch im beruflichen Umgang. Als ich ihn bat, für das Themenheft „Fußball“ einer Zeitschrift einen Beitrag zu verfassen, antwortete er zunächst nicht, um sich dann, als ich ihn schon drängte, geschickt aus der Affäre zu ziehen: „Lieber Herr Kollege, pardon, ich habe nicht früher geantwortet, weil ich Ihnen im Herzen die Zusage schon gegeben habe. Sie haben mich ganz richtig aufgestellt, im linken Mittelfeld, von wo ich das ganze Geschehen überblicke.“
Als Libero im linken Mittelfeld, konziliant und kritisch zugleich, als jemand, der das ganze Geschehen überblickt, so möchte ich ihn auch in Erinnerung behalten. Und ihm, der uns „im Herzen seine Zusage gegeben“ hatte, dankbar sein für das, was er für uns, was er für die Literatur, was er für Österreich getan hat.