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Elisabeth Pirker

Diplomarbeit: Wi(e)der die Wirklichkeit - Dokumentarische Verfahrensweise in den Dramen von Kathrin Röggla

Abstract

Die in Salzburg geborene und in Berlin lebende Schriftstellerin Kathrin Röggla versteht sich selbst als gesellschaftskritische Autorin. Sie setzt sich in ihren Texten mit gegenwärtigen Phänomenen und Prozessen auseinander, die sich auf die Gesellschaft im Allgemeinen und das Individuum im Besonderen auswirken. Es geht ihr dabei darum, die gesellschaftliche Wirklichkeit, innerhalb der sich das Subjekt bewegt, auf die Strukturen hin zu untersuchen, die sie ausmachen – auf Strukturen und Machtdiskurse, die diese Wirklichkeit generieren. Dabei greift sie mehrfach auf ein dokumentarisches Verfahren zurück, das für viele ihrer Texte als konstitutiv gelten kann. Der Titel `Wieder die Wirklichkeit´ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Frage, die zugleich auch der Ausgangspunkt dieser Diplomarbeit ist, nämlich, inwieweit der Einsatz des dokumentarischen Verfahrens, auf das Röggla in ihren Texten zurückgreift, heute überhaupt noch eine adäquate Form darstellen kann, über die sich etwas aussagen lässt. In welcher Weise kann das dokumentarische Versprechen (das den unmittelbaren Zugriff auf eine Realität suggeriert, die jedoch hinter Abbildungs-, Kopier- und Inszenierungsvorgängen zunehmend zu verschwinden scheint) hier überhaupt noch eingelöst werden bzw. welche Wirklichkeitsbehauptung wird dem/der RezipientIn dabei suggeriert?
Wie nun anhand der untersuchten Dramentexte (wir schlafen nicht, fake reports, sie haben so viel liebe gegeben, herr kinski!) gezeigt werden konnte, hat man es hier nicht mit einem Dokumentarismus im klassischen Sinne zu tun, der versucht das gesammelte `Fakten-material´ abbildrealistisch eins-zu-eins widerzuspiegeln, sondern mit dokumentarischen Techniken in einem weiteren Sinne. Dokumentarische Technik bezieht sich hier auf ein Verfahren, bei dem die unterschiedlichen Texturen, die von Röggla während der Recherche gesammelt wurden, zitiert, paraphrasiert, sprachlich bearbeitet und neu zusammengesetzt werden. Das gesammelte `Faktenmaterial´ wird also überzeichnet und kontrastiv in einen nun polyphonen Text montiert. Was den Zugriff auf und den Umgang mit dokumentarischen und fiktionalen Elementen betrifft, so orientiert sich Röggla vornehmlich an der Arbeitsweise des Medientheoretikers und (Film-)Autors Alexander Kluge als auch an jener des Schriftstellers, Ethnologen und Journalisten Hubert Fichte, die diesbezüglich als ihre zentralen Referenzen gelten können. In Anlehnung an Kluges `antagonistischen Realismusbegriff´ werden in Rögglas Texten das Dokumentarische und das Fiktionale nicht als getrennte Bereiche behandelt, sehr wohl aber in ihrer jeweiligen spezifischen Eigenart dargestellt. Röggla geht es dabei auch immer um ein `mediales Dazwischen´, um eine `Hybridisierung´ des Genres und auf diese Weise auch des jeweiligen Mediums. Dementsprechend greift sie in ihren Texten auf Mischformen zurück, die mit der eindeutigen Zuordnung des Genres (Theaterstück, Roman, Hörspiel, Reportage, Interview, Remake …oder doch etwas völlig Anderes?) spielen. Dadurch wird auch ein distanzierender Effekt erzielt, der nicht nur Irritation, sondern auch Misstrauen dem Medium gegenüber provoziert. Es sind Mischformen, die sowohl dokumentarische als auch fiktionale Elemente gleichwertig in den Text miteinbeziehen und dabei sowohl die dargestellte (auf spezifische Weise inszenierte) Wirklichkeit als auch die Authentizität des menschlichen Vorstellungsvermögens (im Sinne von Wünschen, Träumen und Phantasien) als einen `realistischen Zusammenhang´ darzustellen versuchen. Es geht Kathrin Röggla diesbezüglich aber nicht allein nur darum, der Frage nachzugehen, wie ge-sellschaftliche Wirklichkeit hergestellt wird, sondern auch darum, den Strukturen, die unmittelbar auf das Bewusstsein einwirken, etwas entgegenzusetzen. Es ist, wie sie selbst sagt, eine `Gegenerzählung´ an der sie arbeitet. `Wider die Wirklichkeit´ bezieht sich in diesem Zusammenhang sowohl auf das Movens von Rögglas Schreiben (eben eine Form von Protest an dieser Art von Wirklichkeit zu implementieren) als auch auf das konkrete textkompositorische Verfahren, das innerhalb ihrer Texte angewandt wird. In ihren Texten werden gegenwärtige Inszenierungsvorgänge thematisiert, durch ihr textkompositorisches Verfahren wird dann aber Inszenierung auf mehreren Ebenen sichtbar gemacht, da die Medialität des Textes eingeblendet und dadurch auch das inszenatorische Verhältnis des eigenen Textes zur Wirklichkeit sichtbar gemacht wird. Durch die wechselseitige Überblendung von dokumentarischen und fiktionalen Elementen und die spezifische Weise ihrer Darstellung wird ein `Verhandlungsraum´ geschaffen, der sowohl Distanz als auch Annäherung ermöglicht und der die eingeschliffene Wahrnehmung (sowohl dem Medium als auch der behandelten Thematik gegenüber) in Frage stellt. Ähnlich wie in Kluges `politique des auteurs´ ist Röggla `Zeugin einer Erfahrung´. Sie kommuniziert diese Erfahrung in ihrer Subjektivität an den/die RezipientIn, der/die daraufhin überprüfen kann, inwieweit das Dargestellte mit seiner/ihrer Eigenerfahrung übereinstimmt. Dabei machen die Texte auch auf die Brüche und Diskontinuität innerhalb der verhandelten Diskurse aufmerksam. Es sind Gegenerzählungen, die durch die Art und Weise ihrer Darstellung darauf abzielen, Eigenerfahrung zu aktivieren und `Eigensinn´ aufzubauen gegenüber jenen Strukturen und Machtdiskursen, die das Subjekt in seiner Handlungsfähigkeit determinieren, als auch gegenüber den `eingeschliffenen Wahrnehmungsgewohnheiten´ und dem darin verankerten Bild von Wirklichkeit.

Diplomarbeit


Ao. Univ.-Prof. Mag.
Dr. Pia Janke
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